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Stefan Hilterhaus
Foto: Dominik Lenze

„Gesten sind nie ausgeschöpft"

22. Dezember 2015

„Scènes du Geste", ein Wochenende für weltbewegende Choreografien – Sammlung 01/16

PACT Zollverein-Leiter Stefan Hilterhaus zur friedlichen Übernahme seines Hauses durch das französische Centre National de la Danse.

trailer: Herr Hilterhaus, was sind denn world-changing-Choreografien?
Stefan Hilterhaus: Das sind Marksteine in der Entwicklung der Choreografie, in der Auseinandersetzung mit Bewegung, mit Körpern. Im letzten Jahrhundert haben sie bereits die Tabus gebrochen, haben Dinge geöffnet oder bereits andere Mittel eingesetzt. Isadora Duncan hat zum ersten Mal mit nackten Füßen getanzt, überhaupt mit nacktem Bein. Überall in Europa, in Moskau oder Paris wurde sie von den Intellektuellen dafür gefeiert, die Schriftsteller haben darüber geredet. Das waren für die Künstler auch Akte der Befreiung. Man löste sich aus den Konventionen der bisherigen Raster heraus. Und dazu gehören dann einige der Arbeiten, die wir zeigen.

Im Januar alles unter dem Titel „Scènes du Geste"?

​Stefan Hilterhaus
Foto: Dominik Lenze
Stefan Hilterhaus, geboren in Essen, Studium der Romanistik und Geschichte, Diplom in Modernem und Klassischem Tanz. Neben Gastengagements schuf er Choreografien für Schauspiel und Oper. Hilterhaus ist Lehrbeauftragter an der Folkwang Hochschule Essen und leitete ab 1998 die Tanzlandschaft Ruhr, aus dem 2002 der PACT Zollverein mit hervorging, dessen Leiter er seitdem ist.

Genau. „Scènes du Geste" hat eine sehr dichte Form. Es ist eine Art Tableau aus vielen kleinen Arbeiten. Wir können fast zwanzig Arbeiten innerhalb eines Abends zeigen, die alle zwischen zwei und zehn Minuten lang sind. Dazwischen sind Filmausschnitte eingeflochten und auch Musik. Alles ist so ineinander verschachtelt und zueinander gelegt, dass sich Bezüge herstellen lassen. Die Tanzstücke sind chronologisch geordnet, da fangen wir mit 1905 an und hören 2015, wenn man so will, mit zwei Neueinstudierungen auf. Der Abend funktioniert aber auch über Assoziationen. Da gibt es rhythmische Arbeiten, wie Oskar Schlemmers Stäbetanz – eine wunderschöne Arbeit übrigens. Die haben wir zusammengelegt, mit „Clapping Music" von Steve Reich. Das stimmt dann mit der Jahreszahl zwar nicht genau, aber es ist eine bestimmte gemeinsame Art, wie man mit Bewegung, mit Klang, mit Sound umgeht.

Warum die Zweiteilung in Tag und Nacht?
Es ist ja so, dass das Programm ursprünglich aus Frankreich kommt. Wir haben eine Programmreihe mit internationalen Partnern, die wir „Friendly Takeover" nennen. Im letzten Jahr haben wir das mit der Brüsseler Beursschouwburg gemacht und dies ist eine Fortführung davon mit dem Centre National de la Danse Pantin bei Paris. Wir haben das Programm zwar für eine Essener Version adaptiert, aber trotzdem ist es deren Übernahme unseres Hauses. In Paris gab es die Zweiteilung in Tag und Nacht; bei uns im Ruhrgebiet findet alles exklusiv an einem Abend statt. Wir haben ein paar Arbeiten rausgenommen, manche gingen technisch nicht. Insofern haben wir jetzt ein zweiteiliges Abendprogramm mit einer Pause dazwischen.

Bildende Kunst ist auch vertreten?
In dem Programm ist Bildende Kunst in eigener Form nicht vertreten, aber wir haben einen Valeska-Gert-Installationsraum. Das ist eine expressive und respektlos erfrischende Kabarettistin, Künstlerin, Performerin, die auch in vielen Filmen mitgespielt hat. Daraus sind Passagen herausgeschnitten, und die werden wir auf großen Leinwänden im Nebenraum projizieren. Also es gibt keine Bildende Kunst in Form von Objekten, aber es gibt eine Installation, in der wir Valeska Gert in Ausschnitten erleben können.

Kann man diesen Abend als ein eigenes Laboratorium bezeichnen?
Man muss sagen, dass in Frankreich das Programm noch umfangreicher war. Nicht nur, dass das Programm zweigeteilt war, in diesen Tages- und Nachtteil, sondern sie hatten verschiedene Labore. Es gab Präsentationen von Studenten, die alte Arbeiten von Dore Hoyer einstudiert haben, von Sigurd Leeder, von Jean Cébron, also Leuten, die auch hier in Essen gearbeitet haben. Es gab dort sogar Außenpräsentationen. Wir haben uns dazu entschieden, es nicht zu groß zu machen. Das hätte eine sehr viel längere Vorbereitungszeit in Anspruch genommen und die gab es nicht.

Die Schnittstelle Performance gibt es bereits seit Mitte des 20. Jahrhunderts. Wann sind denn die Reservoire an Gesten ausgeschöpft?
Das ist eine sehr schöne, aber ich finde eine philosophische Frage. Ich glaube, Gesten sind nie ausgeschöpft. Alleine schon dadurch, dass die Geste von damals heute etwas ganz anderes bedeutet, und so immer etwas anderes anbietet. Es gibt sicher, sagen wir mal bei Dore Hoyer, klassische Gesten, die expressiv und fast naturalistisch sind. Aber wenn man sieht, wie wahnsinnig vielfältig Künstler heute mit Gesten umgehen und sie neu arbeiten, sie spiegeln und mit Raum- und Zeitbezügen neu versehen, dann muss das also gar nicht sein, dass die ganz anders werden müssen. Aber sie wirken vielleicht anders, sind anders platziert. Diese Frage zielt eigentlich auf die Grundfragen: Was ist eigentlich Original, was heißt Entwicklung, was ist neu. Diese Begriffe werden oft in Frage gestellt. Ich denke, die Geste ist zeitbezogen und wirkt jedes Mal anders. So wie wir auch Geschichte betrachten. Wir werden auf die Entwicklungen in der Geschichte immer neu schauen müssen. Das ist auch das Schöne an dem Metier. Jahre später werden wir schon wieder anders darauf schauen. Und wir werden durch die aktuellen Entwicklungen, auf die Geschichte vor 100 Jahren, vor 50 Jahren, vor Rassenunruhen und Diskriminierungen und so weiter immer wieder neu schauen. Das ist wie mit historischen Arbeiten. Ich schaue sie mir nicht unter den Prämissen an: „So haben sie es früher gemacht, gut, dass wir woanders sind", oder: „Schön war es da, viel schöner als heute." Mich interessiert stattdessen, was ist da eigentlich für eine Energie, was für ein Bruch oder für ein Statement in dieser Art von Arbeit. Welcher Mut steckt zum Teil dahinter. Das sieht man zum Teil an den historischen Arbeiten. Diesen Mut müssten die Leute heute mal hinbekommen. Insofern ist es immer auch ein Aufruf zu Alternativen, zu starken Setzungen. Ich sehe das eher in dieser Richtung, dass das Reservoir nie ausgeschöpft ist, sondern dass es immer wieder neu verändert wird. Natürlich verändern sich auch die Körper, dann gibt es Dinge, die sind linear, einfach schneller und virtuoser, aber darum geht es gar nicht. Es geht darum, wie man es in einen Kontext setzt. Manchmal geht es ja auch um die Reduzierung von Gesten. Da gab es in der performativen Kunst Entwicklungen, wo man plötzlich ganz wenig machte. Da ging es nicht um die Anzahl, Variationen oder Originalität, sondern um Genauigkeit, um das genaue Schauen.

„Scènes du Geste" | Fr 22.1., Sa 23.1. 20 Uhr | PACT Zollverein, Essen | 0201 289 47 00

INTERVIEW: PETER ORTMANN

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