Ein Western ohne Schießerei. Kaum Pferde. Keine Angriffe der indigenen Bevölkerung auf Siedler. Auch keine Prärie, kein Monument Valley. „First Cow“ ist der siebte Filme der US-amerikanischen Drehbuchautorin und Regisseurin Kelly Reichardt und es ist ihr zweiter Western: Der schüchterne Otis Figowitz alias Cookie (John Magaro, „The Umbrella Adacemy“) freundet sich mit dem flüchtigen Japaner King-Lu (Orion Lee) an. Mit gestohlener Milch werden beide zu erfolgreichen Bäckern - bis ihre Klauereien auffallen. Reichardts Perspektive erinnert an die Fotografie eines Jeff Wall, in der jedes kleine Detail wie in einem Filmstill Bedeutung erlangt, Reichardt friert die Zeit nicht ein, scheint sie in ihren ruhigen Filmen aber zu dehnen. Wie bei Wall hat man auch in „First Cow“ das Gefühl, dass alles wichtig ist, alles einen Unterschied macht. Auch Cookie und King-Lu – in einem klassischen Western wären sie höchstens drollige Sidekicks – machen in Reichardts warmherziger, von Gewalt auf komische Art befreiten, aber nicht naiv verklärten Welt einen kleinen, leisen Unterschied.
Hans (Franz Rogowski) wird auf einer Toilette mit einem anderen Mann erwischt und kommt in den Knast. Dort trifft er seinen alten Bekannten Viktor (Georg Friedrich). Es ist 1968, kennengelernt haben sie sich schon direkt nach dem Zweiten Weltkrieg im Gefängnis. Viktor sitzt dort wegen Mordes, Hans wurde direkt vom KZ ins Gefängnis gebracht. Obwohl Viktor der Neue nicht geheuer ist, ist er über die Fortführung der NS-Praxis entsetzt. Sie freunden sich an, und immer wenn Hans wieder einsitzen muss, wartet Viktor schon auf ihn. Sebastian Meise erzählt seine über gut zwei Jahrzehnte gespannte Geschichte „Große Freiheit“ fast komplett im Gefängnis, gestützt auf zwei hervorragende Darsteller. Nur die Frisuren ändern sich über die Jahre – die Restriktion und die Schikanen bleiben gleich, bis 1969 der Paragraph 175 endlich entschärft wird.
Weil er das Stützgerüst der New Yorker Freiheitsstatue entworfen hat, ist Gustave Eiffel (Romain Duris) zum amerikanischen Ehrenbürger ernannt worden. Nun möchte er anlässlich der Weltausstellung in Paris 1889 einen einmaligen Turm erbauen, der die Jahrzehnte überdauern soll. Als er dafür mit einem alten Bekannten, Antoine Restac (Pierre Deladonchamps), zusammenarbeitet, lernt er auch dessen Frau Adrienne (Emma Mackey) kennen. Die beiden verband vor 20 Jahren bereits eine leidenschaftliche Affäre, und nun kommen die Erinnerungen daran wieder hoch. Können die beiden dort anknüpfen, obwohl sie einst schmerzvoll auseinandergingen? Martin Bourboulons romantisch verklärtes Biopic „Eiffel in Love“ lebt vor allem von Eiffels Versuchen, seinen Traum von einem die Klassenunterschiede überwindenden Turm mitten in Paris zu verwirklichen. Auch hinsichtlich der Ausstattung, der Kostüme und der subtil eingebauten visuellen Effekte, die gemeinsam die Illusion des Paris‘ des späten 19. Jahrhunderts wieder auferstehen lassen, ist der Film äußerst eindrucksvoll geraten.
Die elfjährige Mia und ihre drogenabhängige Mutter sind in die Schweizer Provinz umgesiedelt worden. Die dahintersteckende Idee, die Frau und andere Junkies auf diese Weise von den Drogen loszubekommen, erweist sich aber schon bald als große Illusion. Pierre Monnards Film „Platzspitzbaby – Meine Mutter, ihre Drogen und ich” basiert auf den autobiografischen Erinnerungen von Michelle Halbheer, die in den 1990er Jahren mit ihrer Mutter und etlichen anderen Drogenabhängigen vom Züricher Platzspitz vertrieben wurden, wo sie zuvor lange Zeit unbehelligt Heroin spritzen konnten. Auf unsentimentale und erschreckend realistische Weise wird hier der Alltag einer Süchtigen aus dem Blickwinkel eines Kindes geschildert. In den beiden Hauptrollen schonungslos und facettenreich gespielt.
Das Landleben ist im französischen Kino oft purer Genuss an Tafeln voller Delikatessen. Nicht so für Pierre. Als junger Mann hat er den Hof des Vaters übernommen und ihn voller Elan modernisiert. Bald hat er mit seiner Jugendliebe Claire zwei Kinder und zu den ursprünglichen Ziegen 20.000 Hühner und einen Schuldenberg. Edouard Bergeron hat über die französischen Bauern, wie seinen Vater, und deren Probleme bereits einen Dokumentarfilm gemacht. „Das Land meines Vaters“, sein Spielfilmdebüt, handelt konzentriert von Pierres kargem Leben und seiner Familie. Wie andere Landwirte in der EU führt er längst einen Industriebetrieb mit Massentierhaltung. Wir sehen die Landschaft, die Arbeit, die Menschen und an der Spitze des überzeugenden Ensembles Guillaume Canet als Pierre.
Amerika in den 1920er Jahren. Auf einer Ranch in Montana werden zwei Brüder zu Feinden, als der eine, der Träumer und Romantiker George (Jesse Plemons), eine Witwe (Kirsten Dunst) heiratet. Phil (Benedict Cumberbatch), der auf Traditionen und ein klassisches Männerbild setzt, freundet sich aus Kalkül mit dem Sohn der Witwe an. Jane Campion verfilmt Thomas Savages Roman „The Power of the Dog“ als aufregendes Post-Western-Kino. Dabei inszeniert sie ausgerechnet den sonst so intellektuell wirkenden Benedict Cumberbatch als wilden Mann, der seine wahre Identität und Sexualität mit Härte zu überspielen sucht.
Außerdem neu in den Ruhr-Kinos: Aboozar Aminis Doku „Kabul, City in the Wind“, lena Stahls Roadmovie „Mein Sohn“, Jason Reitmans gelungenes Geisterjäger-Sequel „Ghostbusters: Legacy“, Greg Tiernans und Conrad Vernons Animationsspaß „Die Addams Familiy 2“ und Gil Kenans Buchadaption „Ein Junge namens Weihnacht“.
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