„Alcarràs - Die letzte Ernte“ erzählt von einer Familie. Der Familie Solé, die seit Generationen eine Pfirsichplantage in Katalonien bewirtschaftet. Der Großvater hatte das Grundstück dereinst per Handschlag vom Großgrundbesitzer zugesprochen bekommen. Jetzt meldet dessen Enkel Bedarf an – und der Handschlag gilt nicht mehr: Am Ende des Sommers werden die Pflanzen durch Solarpanels ersetzt. Vater Quimet (Jordi Pujol Dolcet) ist weder dazu in der Lage, den Umbruch anzuerkennen noch seinen Groll konstruktiv in Bahnen zu lenken. Mitten in der letzten Ernte bemüht sich seine Frau Dolores (Anna Otìn), die Wogen zu glätten. Teenie-Tochter Mariona (Xènia Roset) ist mit ihren Sehnsüchten ganz woanders, ihr großer Bruder Roger (Albert Bosch) pflanzt heimlich Hanf an, und die kleine Schwester Iris lebt jenseits der existenziellen Sorge im ungetrübten Kinderkosmos. Doch alles droht zu zerbrechen. Quimet ist launisch im verletzten Stolz und eckt mit Schwester und Schwager an, die erwägen, mit denen zu kooperieren, die der Familie die Existenzgrundlage rauben. Beim Dorffest bricht der Konflikt durch. Die Namen der Darsteller finden sich nicht in den Katalogen der Castingagenturen. Carla Simón, die 2017 mit ihrem Spielfilm-Debüt, dem Oscar-Anwärter „Fridas Sommer“, viele Preise und Lob einheimste, rekrutiert fast komplett Laiendarsteller. Die Autorenfilmerin stammt selbst aus einem katalanischen Dorf, auch ihre Familie baut dort Pfirsiche an. Vor gar nicht langer Zeit starb ihr Großvater, und der Regisseurin wurde die Fragilität gewahr – eines Lebens, einer Existenzgrundlage. Das Geflecht einer Großfamilie vor Augen, erzählt Simón sowohl vom großen Kuddelmuddel der gesamten Sippschaft und vermag zugleich, zärtlich und innig jedes einzelne Familienmitglied durch die Krise zu begleiten. Sei es am großen Tisch mit allen Beteiligten zum Festmahl oder im Schlafzimmer, wo der Großvater in einem magisch stillen Moment auf der Bettkante kauert.
Friede, Freude, Felix und Frida. Der Zauber hält leider nur den Vorspann lang. Dann ist die Kita-Betreuerin in Laura Lehmus' „Sweet Disaster“ solo mit Embryo und der Flugkapitän zurück bei seiner Ex. Ein herber Schlag für die 40-jährige Frida (Friederike Kempter), die sich nicht nur mit den Risiken einer späten Geburt konfrontiert sieht, sondern auch mit einer Zukunft als Alleinerziehende. In ihrer Verzweiflung beginnt sie Felix (Florian Lukas) mit Hilfe der Drohnen ihrer Technik-begabten Nachbarin zu stalken. Bis sie erkennt, dass es in ihrer Umgebung auch noch andere Menschen mit Sorgen gibt und sie beginnt, sich auf diese zu konzentrieren. Klingt nach Depri-Stoff, wird aber leicht und bunt und beschwingt dargeboten. Ein bisschen Sesamstraße, ein bisschen fabelhafte Amélie.
Der Norden Schottlands: Vor kurzem ist Toms (Timothy Spall, „Mr. Turner – Meister des Lichts“) Frau gestorben. Jetzt beschließt der 90-jährige Kauz mitsamt ihrer Asche nach Südengland zu reisen, wo sich das Paar zum ersten Mal begegnet ist. Weil es nichts kostet, nimmt er den Bus, wo er auf 1300 Kilometern allerlei Mitreisenden begegnet. Gillies MacKinnon gelingt mit „Der Engländer, der in den Bus stieg und bis ans Ende der Welt fuhr“ ein schrulliges, tragikomisches Roadmovie.
Außerdem neu in den Ruhr-Kinos: Diana El Jeiroudis filmischer Essay „Republic of Silence“, Jordan Peeles neuer Gruseler „Nope“, Isabelle Stevers verhängnisvolle Romanze „Grand Jeté“ und Mike Marzuks Westernabenteuer „Der junge Häuptling Winnetou“.
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