 
				Es gelingt ihr nicht: Die Tänzerin Melena Tortoh läuft auf Kilian Unger zu. Sie hat ihm in dieser Szene offensichtlich etwas zu sagen. Doch Unger, der eigentlich als Komponist mitwirkt, kauert hinter einem Musikpult. Und sein Sound erfüllt den Raum, mit Synthesizer-Beats und wuchtigem Takt, während Tortoh die richtigen Worte sucht. Aber sie hält sich die Hand vor ihren Mund, als dürfte sie nicht mehr sprechen. Sie schreitet wieder zurück und drückt ihre Emotionen durch ein Schwingen der Arme oder ein expressives Stampfen aus; kurz: durch Krumping, ein schneller Freestyle-Tanz, den Tortoh so schnörkellos hinlegt wie es eben nur Profis können.
Dafür gibt es Applaus. Zwar noch nicht vom Publikum. Aber der Choreograf Jimmy Vairon scheint an diesem Mittwochmittag in den Herner Flottmann-Hallen zufrieden zu sein mit den Proben. Noch knapp zwei Wochen sind es bis zur Premiere von „Faster“ im Theater Oberhausen. Vairon entwickelte die Choreografie mit Tänzer:innen von Renegade, einer urban-zeitgenössischen Tanzkompagnie aus dem Ruhrgebiet. An der internationalen Produktion wirken Künstler:innen aus Venezuela, Frankreich oder der Ukraine mit. Erst im vergangenen Herbst zeichneten Vairon und Renegade bereits für das Kurzstück „OUROBOROS“ verantwortlich, das im Rahmen des Spielzeiteröffnungstags am Theater Oberhausen gezeigt wurde. Das Schauspielhaus unter neuer Leitung setzt einen Schwerpunkt auf die „Urban Arts“ und plant mit dem Pottporus e.V. und seiner Tanzkompagnie Renegade zukünftig weitere Zusammenarbeiten.
Die Produktionen von Renegade bewegen sich zwischen urbanem und urban-zeitgenössischem Tanz und auch in „Faster“ findet man Hip Hop, Krump, Breaking, Rap, Beatboxing, die zu den Urban Arts zählen. Hinzu kommen Physical Theatre, zeitgenössischer oder experimenteller Tanz. Die Choreografie eröffnet eine Geschwindigkeitsperspektive auf den Daseinszustand. Oder, wie es Jimmy Vairon formuliert: „Es geht vor allem darum, dass uns die Zeit davonläuft.“ Und so kreist sein Stück um den Umgang mit der fließenden Zeit, als Individuum oder in der Gruppe. „Die Zeit geht immer voran. Selbst wenn wir sterben, die Zeit läuft weiter“, sagt Vairon. Doch wer fristet schon eine atomistische Existenz? Daher befragt „Faster“ auch die gruppendynamische Dimension der Zeit, so Vairon : „Es geht um die Beziehung zwischen uns, wie wir uns vernetzen und uns als Gruppe zusammenfinden.“ So sind es auf der Bühne zwischenmenschliche Interaktionen, in denen sich die sechs Tänzer:innen und zwei Musiker begegnen: sprachlos, entfremdet oder rastlos.
Schließlich ringen sie alle mit einem Strudel der Zeit, der sie zu verschlingen droht: ein Sujet, das philosophisch anklingt. Und in dieser existenziellen Wucht meint es auch Vairon: „Was soll man machen? Dem ausweichen? Eine Lösung finden oder sich familiären oder freundschaftlichen Werten widmen?“ Den Schwebezustand, den er mit seiner Choreografie thematisiert, will er jedoch nicht an konkrete Krisenerfahrungen wie die Coronapandemie gebunden verstehen, als die Zeit scheinbar stillstand: „Ich komme aus Frankreich und dort wurden darüber viele Stücke gemacht, die anfingen, langweilig zu werden“, so der Choreograf. „Wir haben doch die Krise hinter uns gelassen, warum soll ich noch darüber reden?“ In seiner Choreografie wird ohnehin nicht allzu viel geredet, dafür spektakulär getanzt.
Faster | 3., 4., 10., 11., 29.3. jeweils 19.30 Uhr | Theater Oberhausen | 0208 857 81 84
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