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Max Goldt in der Zeche Carl
Foto: Benjamin Trilling

Die letzten Tage des Querulantentums

18. Januar 2015

„Schade um die schöne Verschwendung" von Max Goldt am 15.01. in der Zeche Carl

Wo trägt man diese Kämpfe aus? Verblendete, fanatische Kämpfe, zu denen ein vermeintlicher Anlass gar nicht im Verhältnis steht, die Kämpfe der Querulanten gegen die Windmühlen von heute, gegen die „Islamisierung des Abendlandes", gegen die „Lügenpresse" oder gegen provokante Karikaturen. In den Texten der aktuellen Lesetour „Schade um die schöne Verschwendung“ von Max Goldt bekommt dieser Typus einen besonderen Platz. Als bürokratische Ausraster-Typen werden sie beschrieben, mit den Stromberg-prototypischen Figuren des Schauspielers Jochen Busse verglichen: Pedantisch, engstirnig und wütend. Der Stoff, aus dem der Pegida-Wutbürger gestrickt ist. Dann schwingt auch satirische Kritik am gegenwärtigen Zeitgeist mit, wenn Goldt darüber philosophiert, wo der Querulant heute Dampf ablässt. Die Räume haben sich verschoben, böse losgepoltert werde nun meist im Internet. Natürlich auch noch altmodisch, in der Bahn oder auf der Straße. Max Goldt fängt diese wütenden Aussagen liebevoll ein:„Solche Idioten kann Deutschland brauchen. Mit solchen Idioten wird Deutschland pleite. Nicht zu fassen – armes Deutschland."

Ernst kann man es nicht nehmen. Stattdessen wird im rappelvollen Saal der Zeche Carl über die Ausführungen des ehemaligen Titanic-Kolumnisten gelacht. Trotzdem sind es Diskurs-Fetzen, wie sie von Lutz Bachman, Bernd Lucke und Co. stammen könnten – Medien- und Kulturkritik, die zuweilen an Karl Kraus erinnert. Der „Fackel"-Herausgeber schrieb seinerzeit sein Magnum Opus „Die letzten Tage der Menschheit“. Bei Goldt sind diese letzten Tage nun vom Querulantentum geprägt. Anders als die konservative, kulturkritische Untergangsstimmung des Wiener Sprachkritikers eröffnet Goldt jedoch eine muntere Beobachtung des Alltags, keine wütende, sondern spielerische Kritik, Sammelwut dessen, was die Kultur oder der Mediendiskurs so an Output abwirft. Beobachtungen des deutschen Alltags, scharfsinnig, pointiert und aus verschiedenen Perspektiven gewendet.

Etwa wenn der Kleist-Preisträger den Querulanten vorwirft, „keine Sachkenntnis" zu haben und nur blinden, wütenden „Oppositionsgeist" auszuleben, z.B. im Vorwurf, „Medien lügen". Auch für diese aktuelle Rede von der„Lügenpresse" hat Goldt ein Fundstück aus seiner Alltagsbeobachtung parat, wenn er einen Dialog aus einer Berliner Online-Journalismus-Akademie liest: „Islam, ist das eigentlich ein Staat?“ – „Nee, kein Staat. Der Staat heißt Israel."

Einer seiner zahlreichen Abschweifungen, eine Schilderung dessen, was er mit Online-Journalismus verbinde und die Erkenntnis: „Überzeugendes Lügen ist anstrengend". Oder: Die sind gar nicht kompetent genug, um uns anzulügen. Amüsant ist es auch, wenn Goldt den provinziellen Spektakel-(Lokal)-Journalismus überzeichnet darstellt: Wenn ein Gewitter in Berlin umfassende Berichterstattung erfährt oder die Medien „die ersten Steinpilze wie Popstars begrüßen". Bei Kraus stünde die Kultur vor dem Untergang. Bei Goldt sind die „letzten Tage" längst noch nicht gezählt. Sie sind zum Sammeln, Archivieren oder dekonstruieren. Sie gehen also weiter.

Benjamin Trilling

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