Das krisenumwölkte Jahr 2009 geht zur Neige, und Großartiges kündigt sich an. In einem Monat beginnt das Kulturhauptstadtjahr. Aus diesem Grund stellte die RUHR.2010 GmbH nun stolz ihr „Buch zwei“ der Öffentlichkeit vor. Nachdem das „Erste Buch Pleitgen“ – so nannte unsere Kolumne Magenbitter semireligiös jenes Machwerk – wolkige Pläne präsentierte, werden nun die harten Fakten genannt. Anlass genug, dass wir an dieser Stelle auch Ungewöhnliches versuchen: eine Buchrezension.
„Ein gutes Buch“, hätte Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki sicher nicht in die Kameras geschnarrt, wenn er unseren Job übernommen hätte. Zu wenig Lyrik, zu viel Prosa. Auf den ersten Blick denkt man nicht nur wegen des DIN A4-Formats und der 220 Seiten an ein Telefonbuch oder einen Versandhauskatalog. Gerade letzterer Vergleich drängt sich auch beim Durchblättern auf. Viele bunte Bilder werden flankiert von kurzen Produktbeschreibungen. Nur Bestellnummern und Preise fehlen. Natürlich, wird jetzt der Kulturhauptstadtfan einwenden, hinkt der Vergleich zum Himmel. Quelle ist Vergangenheit, RUHR.2010 hingegen die Zukunft. In acht Themenfeldern wie „Mythos Ruhr begreifen“, „Metropole gestalten“ und „Kreativwirtschaft stärken“ werden die Vorhaben der Kulturschaffenden der Region beschrieben.
Der dreckige Kohlenpott wird strukturgewandelt in eine Kulturlandschaft erster Güte.
Der dreckige Kohlenpott wird strukturgewandelt in eine Kulturlandschaft erster Güte. Die illuminierten Industriedenkmäler Zollverein, Jahrhunderthalle, Gasometer und Landschaftspark Duisburg-Nord sollen Würde und Erhabenheit vermitteln. Bösartig formuliert: Den Verantwortlichen gelingt es, einen Furz bunt anzumalen. Gutartig formuliert: Es wird eine Wonne sein, im nächsten Jahr in diesem farbigen Furz zu leben und umherzuwandeln. Gerade das Kleingedruckte macht neugierig. Ob Kasperiade in Bottrop, Mord am Hellweg oder Elektronische Kunst in Dortmund, die kleinen feinen Events haben es in sich. Die großen Events, tausendfach in den Medien rauf und runter vorgestellt, werden erwähnt, machen sich aber wohltuend dünn in dem Katalog zu RUHR.2010. Zwar wird auch für den Sängerstreit in der Bier-Arena, die Ballons über den Zechenbrachen und dem Frühstück auf der A40 geworben, mehr als je eine Seite sind der GmbH aus der Brunnenstraße ihre Highlights nicht wert. Und das ist auch gut so. Beim Schmökern im Schmöker wird sogar dem Zweifler allmählich deutlich, welche Kulturwelle im kommenden Jahr über das Ruhrgebiet rauschen wird. Zugegeben: Manche Programmpunkte sind nur alter Wein in neuen Schläuchen. Das Festival MELEZ gab es bereits, das Jugend-Theater-Camp „pottfiction“ ebenfalls, auch von einer Ruhrtriennale hörte man schon zuvor. Jede Kulturveranstaltung, die für das kommende Jahr geplant wurde, bekam von den RUHR.2010-Programmierern schnell noch das entsprechende Logo auf das Ankündigungsplakat geklebt. Aber gut, auch kulturell muss das Rad nicht ständig neu erfunden werden.
Spannend in „Buch zwei“ sind die Weglassungen. Zu einem Kammermusiksaal sollte noch vor einem Jahr die Marienkirche in Bochum umgebaut werden, zu Ehren der Kulturhauptstadt. Jetzt, nach der Haushaltssperre, kommt das entweihte Gotteshaus nur noch als Fußnote vor. Zwischen den elf Zeilen ist zu lesen: Bitte nicht nachfragen, alles ist oberpeinlich. Auch der „Platz des Europäischen Versprechens“, eines der meistumworbenen RUHR.2010-Projekte der letzten Jahre, wird nur noch mit vier kurzen Sätzen abgehandelt. Der beteiligte Künstler Jochen Gerz wird wohl tapfer sein müssen. Gerade die Neubauten und Umbauten zum Hauptstadtjahr werden nur als Computeranimation dargestellt, weil sie zu Beginn des kommenden Jahres noch nicht fertig geworden sind: das Landesarchiv NRW im Duisburger Hafen, der Nordsternturm Gelsenkirchen, der KUBUS in Bochum. Ganz und gar fehlt ein Hinweis auf eine irgendwie noch zu realisierende Bochumer Symphonie. Ohne Moos nix los.
Aber vielleicht muss man RUHR.2010 tatsächlich weniger aus monetarischer Richtung denken und machen, um der Region gerecht zu werden. Die Wolkenkuckucksheime gehören in den Himmel und die Menschen mit ihrer Kultur auf die Erde. Es birgt auch einen Reiz, wenn eines der besten Symphonieorchester des Landes obdachlos ist und in Museen, Theatern, Universitäten und Schulen auftritt. Irgendwie bekommt diese Siedlungslandschaft zwischen Xanten und Hamm schon das Flair einer Großstadt. Die Emscherinsel wird zum Centralpark umgebastelt, auf dem Gasometer wird irgendwann ein Film mit einem Riesenaffen und einem blonden Mädchen gedreht werden, und der Hellweg wird zur musealen Route 66. Tief im Westen ist vieles möglich. Einen ersten Vorgeschmack darauf bekommt man schon im Dezember serviert. Am 12. Dezember wird der Europäische Filmpreis verliehen. Ein Hauch von Hollywood wird durch die ehrwürdige Lichtburg in Essen wehen, wenn Filmemacher Ken Loach seinen Ehrenpreis erhält und all die anderen Promis auf dem roten Teppich entlangstöckeln. Was ist Cannes gegen Wanne?
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