„Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind.“Recep Tayyip Erdoğan zitierte diesen Auszug eines religiösen Gedichts Ende der 90er in einer Konferenz-Rede. Weiter heißt es: „Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“ Daraufhin wurde er zu zehn Monaten Haft und lebenslangem Politikverbot verurteilt. Für die türkische Armee und die kemalistische Elite war der damalige Oberbürgermeister Istanbuls ein aufrührerischer Islamist, gegen den es die laizistische Grundordnung zu verteidigen galt.
Çiğdem Akyol sieht in Erdoğan allerdings keinen Islamisten. In ihrer kürzlich erschienenen Erdoğan-Biografie beschreibt sie den Despoten als Taktiker und Strategen der Macht. „Ich finde ihn als Charakter einfach hochinteressant und faszinierend“, so Akyol. „Dahinter steht schlicht journalistische Neugier.“ Für die ehemalige DPA-Korrespondentin in Istanbul stehe Erdoğans Geschichte auch für die ernüchternde Entwicklung der türkischen Gesellschaft und Politik.
Denn als Erdoğan 2003 mit seiner AKP als Ministerpräsident antrat, führte er zunächst weitgehend liberale Reformen durch: Pressefreiheit und Frauenrechte wurde gestärkt, die Todesstrafe abgeschafft und die Situation der Minderheiten (z.B. Armenier und Kurden) verbessert. „Das sind alles Reformen gewesen, die die Vorgängerregierungen versäumt haben“, so Akyol. „Ich unterstelle ihm, dass das alles taktisches Vorgehen war.“ Denn die Einführung eines Präsidialsystems stand schon früh auf der Agenda Erdoğans. Unter der Ägide der AKP erlangte die Türkei Wohlstand und wirtschaftliche wie politische Stabilisierung. Der Parteichef aus einfachen Verhältnissen, der in einem islamistisch geprägten Elternhaus aufwuchs, gewann schnell politischen Rückhalt – nicht zuletzt auch in der Mittelschicht und der ärmeren Bevölkerung. „Er hat es der arroganten, kemalistischen Elite gezeigt“, so die taz-Journalistin. „Einer aus dem Volk und einer für das Volk – dieses Image führte ihn eine Zeit lang von Wahlsieg zu Wahlsieg.“
Als die Autorin vor zwei Jahren mit ihrem Buchprojekt begann, lehnte sich die Bevölkerung erstmals gegen die AKP-Regierung auf. Die Gezi-Proteste waren mit einer Hoffnung auf eine demokratische Öffnung der türkischen Gesellschaft verbunden. Seit der brutalen Niederschlagung der Proteste wurden viele Rechte weiter eingeschränkt, die Demokratie massiv abgebaut.
Akyol plant aktuell, eine zweite Auflage der Biografie herauszubringen. Die Aufbruchstimmung der Gezi-Proteste ist mittlerweile in weite Ferne gerückt. „Die Situation ist nach dem Putsch noch mal eine andere.“ Auch wenn das geplante Präsidialsystem noch nicht etabliert ist: Das AKP-Regime ist gestärkter denn je, seit dem Putschversuch gilt am Bosporus noch immer der Ausnahmezustand. „Die Regierung Erdoğan kann gerade tun, was sie will und das tut sie auch.“ So werden aktuell kritische JournalistInnen verfolgt, der Laizismus aufgehoben und durch religiöse Lehrinhalte ersetzt. Auch eine Wiedereinführung der Todesstrafe würde Akyol nicht ausschließen. „Hoffentlich irre ich mich“ sagt die gebürtigen Hernerin und fügt hinzu: „Die Türkei ist noch keine Diktatur“. Aber wann wird Erdoğan aus dem Zug Demokratie aussteigen? „Das wird er tun, wenn er sein Präsidialsystem hat.“
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