In Andreas Dresens Film „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ spielt Alexander Scheer einen Menschenrechtsanwalt, der sichtlich überrascht auf einen Fall reagiert: Die Mutter von Murat Kurnaz befindet sich in seinem Büro und benötigt einen Rechtsbeistand, um ihren Sohn aus dem Gefängnis zu holen. Und zwar aus dem Gefangenlager Guantanamo, in dem die USA seit ihrem „Krieg gegen den Terror“ Verdächtigte festhalten – ohne Gerichtsurteile, ohne Rechtsbeistand.
Dresens Film erzählt vom langjährigen Kampf von Rabiye Kurnaz und ihrem Anwalt Bernhard Docke, die unter anderem bis vor den Obersten Gerichtshof der USA zogen. Das Fritz Bauer Forum lud zur Aufführung des Spielfilms in die Bochumer verdi-Geschäftsstelle ein und veranstalte anschließend ein Gespräch mit Bernhard Docke, der für die Veranstaltung aus Bremen anreiste.
Außenpolitisches Klima
Docke erhielt 2006 die Carl-von-Ossietzky-Medaille für sein Engagement für die Befreiung von Murat Kurnaz aus dem Gefangenenlager. Er betonte nach der Filmvorführung, dass die Szenen den Sachverhalt nicht dramaturgisch zuspitzten. „Für mich war das der aufregendste Fall, den ich behandelt habe“, erzählt Docke, „er ist mir sehr nahe gegangen“.
Das lag auch daran, dass der Fall aus einem bestimmten ideologischen Klima und einer außenpolitischen Agenda im Ausgang von 9/11 hervorging. Nach den Anschlägen von Al-Qaida auf das World Trade Center ignorierte die Bush-Administration Völker- und Menschenrechte, um ihren „Krieg gegen den Terror“ zu führen. „Der Präsident nahm sich im 21. Jahrhundert das Recht heraus, das Völker- und Verfassungsrecht auf das Mittelalter zurückzustellen“, so Docke.
Untätige Bundesregierung
Die Tatsache, dass sich Kurnaz auf Kuba, damit außerhalb der US-amerikanischen Rechtsordnung, wie zumindest die republikanische Exekutive argumentierte, befand, stellte auch Docke vor juristische Hürden. „Es gab überhaupt keine etablierten Wege, um so einen Fall zu lösen“, erläutert der Anwalt, für den es auch eine moralische Frage war, sich für Kurnaz einzusetzen: „Es gebietet die Ethik, jemanden da rauszuholen und nicht in der Folter schmoren zu lassen.“
Letztendlich trug Angela Merkel, damals in ihrer ersten Legislatur, zu der Freilassung von Kurnaz bei. Ihr schrieb Docke vor Weihnachten 2005 einen Brief – mit Erfolg: „Die diplomatische Initiative von Kanzlerin Merkel war ausschlaggebend“, sagt Docke, „ich bin ihr ungemein dankbar und zugleich ungemein enttäuscht von der rot-grünen Regierung“. Denn Schröders Kabinett hätte bereits Jahre zuvor Kurnaz vor weiterer Folter bewahren können – und das ohne große Bemühungen, da die USA Kurnaz ausliefern wollten, so Docke weiter. „Wir haben erst Jahre später erfahren, dass Deutschland das Angebot der Amerikaner ablehnte.“
Bis in die Ukraine
Heute gibt Docke gemeinsam mit Kurnaz Veranstaltungen an Schulen, um über Menschenrechte aufzuklären. Es seien noch immer 36 Gefangene auf Guantánamo inhaftiert, so Docke: „Mann muss sich das mal vorstellen: Zwanzig Jahre, ohne je einen Richter gesehen zu haben.“ Für ihn warf die Suspension von Völker- und Menschenrechten durch die USA einen Schatten auf die gegenwärtige, globale Situation. Denn die Bush-Regierung ignorierte die bewährten, internationalen, juristischen Instrumentarien, so Docke: „Die Amerikaner nahmen sich heraus, im Ausland Ankläger, Richter und Vollstrecker in einem zu sein.“ Der Drohnenkrieg, von Präsident Obama anzettelt, habe ebenso andere Regime ermutigt. „Das führte dazu, dass international die Akzeptanz der Menschenrechte abnahm“, so Docke über die Spirale des Völker- und Menschenrechtsbruchs – von Amerikas „Krieg gegen den Terror“ bis zu Russlands „Spezialoperation“ in der Ukraine. Die Folgen seien international gravierend, so Docke: „Ich sehe da eine bedenkliche Richtung, eine Art Downgrade der Menschenrechte.“
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