Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
15 16 17 18 19 20 21
22 23 24 25 26 27 28

12.557 Beiträge zu
3.787 Filmen im Forum

Begeisterte auch als Musiker: Alfred Goubran
Foto: Benjamin Trilling

Österreichische Verhältnisse

16. Mai 2016

Alfred Goubran beeindruckt Bochum literarisch und musikalisch – Literatur 05/16

Kann man im Rückgriff auf das Dunkel der Historie tatsächlich Licht in die Gegenwart bringen? Literarisch hält der Wahl-Wiener Alfred Goubran in seinem dritten Roman „Das letzte Journal“ der mitteleuropäischen Gegenwartsgesellschaft den historischen Spiegel einer teils unbewältigten Vergangenheit vor, die vom Mittelalter bis zur aktuellen politischen Konstellation in Österreich reicht. Von der Vertreibung der Juden im Prag des Jahres 1389 spannt der Autor einen historischen Bogen über die industrielle Vernichtung von Menschen im Nationalsozialismus und die Vertreibung Deutscher aus Tschechien 1945 bis hin zu gegenwärtigen sozio-politischen österreichischen Verhältnissen. Die zuweilen schroff daherkommende Konfrontation mit einer finsteren Vergangenheit illustriert Goubran dabei anhand des sehr persönlichen Portraits eines Künstlerlebens, das auch dessen schöne Seiten keineswegs verleugnet.

„Die Art wie Alfred Goubran ganz tief in die Welt eines Schriftstellers eindringt und eine Liebesgeschichte mit philosophischen Diskursen verwebt, habe ich so noch nie gelesen“, konstatiert der Bochumer Literaturwissenschaftler Markus Tillmann, bevor Goubran zentrale Passagen aus seinem 2016 erschienenen jüngsten Roman vorträgt. Tagebuchartig verschriftlichte Erlebnisse und eine persönliche Lebensbilanz des Protagonisten verschmelzen im Roman mit einem schlaglichtartigen Fokus auf Österreichs Gegenwart und (teils unbewältigte) Historie. Hierbei gehen traumartige Sequenzen zuweilen mit einem tiefen Einblick in menschliche Abgründe einher: „Manchmal kann man durch den Vorhang der Träume in die Dunkelkammer sehen“, zitiert Tillmann einen jener aus der Perspektive des Schriftstellers Walter Aumeier eingeflochtenen Aphorismen, die prägend für den narrativen Duktus des Romans sind.

Alfred Goubran schöpft bei seiner literarischen Bilanz politischer und gesellschaftlicher österreichischer Verhältnisse nicht nur aus seiner künstlerischen, sondern auch verlegerischen Erfahrung: Bis 2010 betrieb er erst in Klagenfurt, dann in Wien die „Edition Selene“, wo er unter anderem einige Werke des Bochumer Autors Matthias Schamp verlegte. So entstand eine bis heute vitale Vernetzung mit der Kulturszene des Ruhrgebiets. Doch bekanntlich gilt der Prophet im eigenen Land zuweilen wenig, und schließlich musste sich Goubran dem wirtschaftlichen Druck geschlagen geben, sodass er seine verlegerische Tätigkeit beendete. Dies eröffnete ihm jedoch den Freiraum, sich fortan ganz der Musik und dem Schreiben zu widmen.

Der Roman-Protagonist des 'letzten Journals', Walter Aumeier, glaubt, dass er beim Wiederlesen von Büchern aus der Vergangenheit wieder Teil ebenjener würde – um die Gegenwart im Lichte (oder zuweilen im Dunkel) der Vergangenheit zu spiegeln. „Das ist die beste aller Zeiten – ich möchte in keiner anderen leben“, philosophiert der Schriftsteller. „Wir sind selbst Zeit – das werden wir nicht los.“ Im Umgang mit der Historie sei es jedoch wichtig, „das Fremde in seiner Fremdheit [zu] belassen“, um eine wirkliche Begegnung mit ihr zu ermöglichen. Dies gestaltet sich insbesondere dann schwierig, wenn das Abgründige einer Zeit in den Fokus rückt und das Subjekt mit sich in die dunkle Tiefe zu reißen droht. Daher schreckt Aumeier zunächst auch davor zurück, sich mit den Kriegsgräueln in der Endphase des Zweiten Weltkriegs zu befassen: „Ich wollte nicht darüber schreiben – […] ich wollte die Berührung mit dem Unaussprechlichennicht.“ Doch bleibe „die Berührung, die uns zuständig macht – und wenn es nur ein Schicksal ist, von dem wir erfahren und das uns erschüttert.“      

Was der Roman in seiner Komplexität nur stellenweise emotional erfahrbar machen kann, gelingt Goubran als Musiker exzellent: Den Ort und die Jahreszeit etwa im Song „Frühling in Wien“ in seiner subjektiv wahrgenommenen Melancholie zu schildern. Das geht unter die Haut. „Ihr klatscht, als wärt Ihr Tausend“, bedankt sich der Künstler beim immer wieder enthusiastisch applaudierenden Publikum im Rottstr5-Theater. Anders bei der Lesung in der Goldkante, wo bis zum Ende eine gespannte Stille herrscht, die sich erst am Ende in lang anhaltendem Applaus entlädt. 

Musik funktioniert eben anders als Literatur: „Die Bücher führen ja ein Eigenleben, haben ihre eigene Zeit“, konstatiert Aumeier aus Künstler-Sicht im 'letzten Journal'. „Sie treiben und knospen im Verborgenen, und man kann nur hoffen, daß sie Frucht und Blüte tragen, solange man noch am Leben ist, damit man auch etwas davon abbekommt.“ Und damit kann auch auf diesem Wege das Vergangene Licht für die Zukunft bringen.

Alfred Goubran: „Das letzte Journal“ | 392 Seiten | Braumüller-Verlag | 21,90 Euro
[goubran]: CD „Die Glut“ | ca. 45 min. | Lindo REC./Hoanzl | 14,99 Euro

Ulrich Schröder

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.

Neue Kinofilme

Civil War

Lesen Sie dazu auch:

Nouvelle vague in der Katakombe
„Außer Atem“ am Bochumer Rottstr 5 Theater – Prolog 12/23

Widerstand ist machbar, aber unbeliebt
„Die fetten Jahre sind vorbei“ am Rottstr 5 Theater – Prolog 06/22

Wetterleuchten der Veränderung
Alexander Ritter inszeniert „Wir, Kinder der Sonne“

„Es geht nur noch darum, das irgendwie zu beherrschen.“
Auftakt der Bochumer Klimawoche von „correctiv“ am 4.11. in der Rottstr. 5 – Spezial 11/19

Mit Drogen locker durchs Leben
Huxleys „Schöne neue Welt“ in Bochum – Theater Ruhr 07/19

Grab 'em by the power
Carolin Emcke mit „Ja heißt ja und...“ am 20.6. im Schauspielhaus Bochum – Literatur 06/19

Der Osten beginnt in Wattenscheid
Lesung mit Lucas Vogelsang und Joachim Król am 20.5. im Schauspielhaus Bochum – Literatur 06/19

Bindung nach der Flucht
Lesung „Hotel Dellbrück“ von Michael Göring am 12.2. im Medienforum des Bistums Essen – Literatur 02/19

„Bullshit von der AfD“
Die Leitung des Bochumer Theaters Rottstr 5 über Fördergelder der freien Szene – Bühne 02/19

Literarischer Trip
T.C. Boyle stellt seinen Roman über LSD-Papst Timothy Leary in Essen vor – Literatur 02/19

Stoisch sind die Salatköpfe
„Die Kopien“ am 12.10. am Rottstr5-Theater in Bochum – Bühne 10/18

Unerhörte Parteifinanzierung
Éric Vuillard las am 8.9. im Essener Grillo-Theater aus „Die Tagesordnung“ – Literatur 09/18

Literatur.

Hier erscheint die Aufforderung!