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Christine Schanze beklagt die Verletzung der Menschenrechte

Tote zur Abschreckung

05. April 2019

Europäische Flüchtlingspolitik diskutiert in Herne – Spezial 04/19

Dass es sie nach Europa verschlug, kann Christine Schanze immer noch nicht fassen. Die Krankenschwester aus Bremen hat für Ärzte ohne Grenzen in der Demokratischen Republik Kongo gearbeitet, in der Zentralafrikanischen Republik und im Tschad. Sie leistet für die internationale Organisation humanitäre medizinische Nothilfe dort, wo Staaten versagen, Institutionen zusammenbrechen und Menschenrechte verletzt werden. In Europa sollte das gar nicht nötig sein, sagt sie vor dem Publikum im Eine Welt Zentrum Herne.

 

Trotzdem fand sie sich 2016 für mehrere Monate auf der griechischen Insel Lesbos wieder. Aus dem dortigen Flüchtlingslager Moria erreichen erschütternde Nachrichten die Öffentlichkeit. Für 3000 Menschen ist es ausgelegt, bis zu 9000 müssen dort unterkommen, eine gravierende Überlastung für Infrastruktur, Personal und die Flüchtlinge, die insbesondere aus dem Irak, aus Syrien und Afghanistan stammen. Christine Schanze zeichnet ein Bild der Lebensumstände vor Ort, um später zu einer Diskussion überzuleiten, an der auch die Politiker Jens Bennarend (SPD) und Felix Banaszak (Grüne) teilnehmen. Die CDU habe leider keinen Vertreter rechtzeitig entsenden können, merkt Markus Heißler an, Moderator des Abends und Mitarbeiter des Eine Welt Zentrums.

 

Aufmerksames Publikum

Es sei ein stürmisches Gewässer, das Menschen zu überqueren hätten, die es in überfüllten Booten bis zur Nordküste von Lesbos schafften, sagt Christine Schanze. Viele von ihnen seien Nichtschwimmer und ausgestattet allenfalls mit dürftigen Rettungswesten, die niemanden vor dem Ertrinken bewahren könnten. Ein Friedhof für Schiffbrüchige sei bald angelegt worden. „Niemand wusste, was sonst mit den Leichen geschehen sollte“, sagt sie. Ein rund 50 Kilometer langer Weg ins Flüchtlingslager, zuweilen durch 40 Grad Hitze und mit Kleinkindern auf dem Rücken, sei zu bewältigen gewesen, und helfende Einheimische hätten riskiert, als Fluchthelfer belangt zu werden – bis zur Einrichtung humanitärer Bustransfers. Schlange stehen, Bürokratie und Anspannung, bis zu zwei Tage lang, habe die Erschöpften im Lager Moria erwartet.

 

Eine drastische Verschlimmerung habe stattgefunden mit dem EU-Türkei-Abkommen vom März 2016. Von hier an sei es „einigermaßen spektakulär“ zugegangen, sagt sie zurückhaltend, sodass ihre Fassungslosigkeit durchklingt. Die Ankommenden seien nun hinter Stacheldraht festgehalten worden. Der Anblick kleiner Kinder, „quasi im Gefängnis“ sei „sehr besonders“, formuliert sie einmal mehr zurückhaltend. Sie hebt hervor, die zuständigen Polizisten seien freundlich geblieben und hätten auch nicht recht gewusst, was das neue Verfahren bedeutete. Fortan sei die Ungewissheit für die Menschen dauerhaft geworden. Was geschieht von nun an? Wann, wo und wie einen Asylantrag stellen? Antworten habe es nicht gegeben.

 

Die Mitarbeiterin von Ärzte ohne Grenzen klärt über Flüchtlingslager auf

Bis heute habe sich nichts gebessert. Eher sei es schlimmer geworden, sagt Christine Schanze, auch mit Verweis auf Kollegen, die erst kürzlich wieder vor Ort auf Lesbos waren. Doch das gelte nicht nur für Lesbos, sondern für sämtliche europäischen Brennpunkte der Flüchtlingskrise. Wartezeiten für Asylanträge reichten mittlerweile ins Jahr 2021. Bis zur medizinischen Erstaufnahme, um die körperliche und psychische Verfassung der Ankommenden zu beurteilen, dauere es auf Lesbos mittlerweile ein halbes Jahr; für eine Maßnahme, die binnen Tagen erfolgen müsste. Zelt an Zelt, ohne Privatsphäre, auf teils unbefestigten Böden bei Wind und Wetter, harrten Männer, Frauen, Kinder und Jugendliche, Familien und Einzelpersonen für unbestimmte Zeit aus. Nicht annähernd genügten die sanitären Anlagen für die vielen Menschen. Die unbeleuchteten Anlagen seien gefährlich vor allem für Frauen, die verstärkt Gefahr liefen, im Lager Opfer sexueller Gewalt zu werden, sagt Christine Schanze. Sie schildert, wie Frauen um Verhütungsmittel bäten, um bei Vergewaltigungen wenigstens nicht schwanger zu werden.

 

Die Kürzung der Gelder für Humanitäre Hilfe, auch durch Deutschland, erschwere es Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen zusätzlich, die Lage der Menschen zu verbessern und bei der Bewältigung von Traumata zu unterstützen. Psychische Störungen, Suizide und suizidale Tendenzen nähmen zu durch Fluchterfahrungen, mangelnde Hygiene, Enge und dauernde Ungewissheit.

 

Grünen-Politiker Felix Banaszak kann sich eine Koalition der Willigen vorstellen

Warum all das? Eine Hörerin, die es auch befremdet, dass dergleichen in Europa geschieht, möchte wissen, warum die Missstände andauern. Christine Schanze antwortet unumwunden, dass es sich um „Abschreckungspolitik“ handle. Das Schicksal der Flüchtlinge auf Lesbos und an anderen Orten solle anderen deutlich machen, dass es sich nicht lohne, nach Europa aufzubrechen. „Darum ertrinken Menschen im Mittelmeer“, fügt sie hinzu. Es sei tatsächlich kein Hexenwerk, eine Flüchtlingshilfe zu organisieren, die den Namen verdiene; gewiss nicht für Europa oder eine so starke Volkswirtschaft wie Deutschland.

 

Felix Banaszak, Landesvorsitzender der Grünen NRW, nennt die Zustände erschreckend. Er hoffe auf eine Europawahl, die den Weg zu einer neuen Flüchtlingspolitik ebne, sagt er. Optimistisch sei er aber nicht, angesichts rechter Tendenzen vielerorts in Europa. Für denkbar halte er notfalls auch eine Koalition der Willigen – Länder, die es besser machen wollen, sollten sich zusammentun. Jens Bennarend, Gladbecker SPD-Vorsitzender und Europawahl-Kandidat, bekennt Scham und erntet Applaus, als er sich insbesondere gegen eine Kriminalisierung der Seenotrettung ausspricht.

 

SPD-Politiker Jens Bennarend plädiert für eine neue Entwicklungspolitik

Karl-Heinz Hoffmann, Flüchtlingsreferent des Evangelischen Kirchenkreises Herne, betont, Scham genüge nicht. Es brauche Empörung oder Wut. Wie Christine Schanze habe auch er noch schlimmere Lager gesehen als Moria, beispielsweise im Irak. Doch im reichen Europa seien Entwicklungen wie auf Lesbos unentschuldbar. Er erinnert an Papst Franziskus, der die Flüchtlingslager auf Lesbos mit Konzentrationslagern verglichen hat. Gut, räumt Hoffmann ein, der Papst sei eben nicht von dieser Welt. Doch es sei mehr als bemerkenswert, dass der Vergleich keine nennenswerte Widerrede erfahren habe, dass sogar das Internationale Auschwitz Komitee ihn gebilligt habe. Die mit der Flüchtlingspolitik verknüpften Probleme seien zudem so komplex, dass es nicht genügen könne, Einzelmaßnahmen auf den Weg zu bringen, reichten vom Klimawandel über Handelspolitik bis zum individuellen Konsum der Menschen in den Industrienationen.

 

Dem schließt sich auch Jens Bennarend an. Er spricht sich für eine Entwicklungspolitik aus, die ihren Eurozentrismus überwinden müsse, Probleme und Lösungen also nicht bloß aus europäischer Sicht formulieren dürfe. Dagegen wendet sich entschieden ein Hörer, vermutlich der einzige Afrikaner im Saal. Der aus Guinea stammende Mann, Übersetzer unter anderem für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, beklagt, dass Afrikaner im Gespräch über Entwicklungspolitik seit jeher nicht gehört würden. Sie seien der Ausbeutung und der Bevormundung überdrüssig und verzichteten lieber auf jede Hilfe von außen. „Bleibt weg!“, fasst er zusammen und bekommt Applaus. Er scheint hier nicht der einzige zu sein, der ein Gespräch auf Augenhöhe zwischen den Ländern Afrikas und den Ländern des Westens für ausgeschlossen hält.

 

Karl-Heinz Hoffmann fordert Empörung und Wut

Bennarend entgegnet, Hilfe werde durchaus gewünscht, wie er in Gesprächen mit Maliern erfahren habe; bei der Gründung von Universitäten beispielsweise. Das müsse aber geschehen nach den Regeln der Afrikaner, damit sie bald auf eigenen Beinen stünden. Aussichtsreich sei außerdem eine verbindliche Umsetzung unternehmerischer gesellschaftlicher Verantwortung. Auf Kosten von Menschen und Umwelt in den Ländern des Südens produzieren oder Rohstoffe gewinnen, dürfe nicht Teil der europäischen Handelspolitik sein. Christine Schanze schüttelt hier zum Ende des Abends vorsichtig den Kopf. Da sei beispielsweise der Abbau des Minerals Coltan, allgegenwärtiger Bestandteil in elektronischen Geräten. Sie sehe nicht, wie Handelsvorgaben die menschenrechtlichen Konflikte um Coltan lösen könnten. Fraglich bleibe, welche Ansprechpartner es gebe, wie sich Machtkonstellationen entwickelten. „Mit wem möchten sie verhandeln“, spitzt sie zu, „mit General X oder mit General Y?“ Trotzdem dürfe die rechtliche Dimension natürlich nicht aus dem Blick verloren werden, fährt sie fort, und klagt den Bruch des Völkerrechts in der Flüchtlingskrise an, namentlich des Seevölkerrechts.

 

Mit Blick auf die nahende Europawahl hatte Moderator Markus Heißler zu Beginn des Abend festgestellt, dass er an Europa als Friedensprojekt nicht zweifle. Trotzdem erschüttere ihn, wie Europa mit Menschen umgehe, die auf der Suche nach einem besseren Leben seien. Diese Erschütterung, spürbar im Publikum, konnte nicht aufgelöst werden – zu schwer wiegt das geschehene Leid, zu komplex scheinen die Probleme, zu träge Maßnahmen, die etwas bewirken könnten, wenn sie wenigstens von einer Koalition der Willigen getragen würden, die Felix Banaszak ansprach. Spürbar ist auch etwas anderes, wenigstens an diesem Abend: Die Wut, die Karl-Heinz Hoffmann gefordert hat.

Text/Fotos: Dino Kosjak

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