Der Arbeitsbeginn sei extra um eine Stunde vorverlegt worden, das erzählte ein Reuters-Kollege, als Zamperoni für die Buchrecherche in Washington verweilte. Denn der US-Präsident ist ein Frühaufsteher. Um spätestens sechs Uhr schickt Donald Trump seine ersten Tweets in die Welt hinaus. Ein Detail, das viel darüber verrät, wie viel sich in den USA und in der Welt seit seinem Amtsantritt verändert hat.
Es sind nicht nur die Twitter-Meldungen, auf die sich JournalistInnen stürzen. Nur anderthalb Jahre nach dem Beginn seiner Präsidentschaft hat Trump die Welt vor allem außenpolitisch auf den Kopf gestellt: Neben dem jüngsten Ausstieg aus dem Iran-Deal oder dem protektionistischen Säbelrasseln wäre da auch die Absage an das Pariser Klimaabkommen oder die Ernennung erzreaktionärer Richter zu nennen. Sein Ungestüm, seine Unberechenbarkeit verwirrt seitdem den Rest der Welt.
Umso gefragter sind Trump-Versteher. Und der Tagesthemen-Moderator Ingo Zamperoni hat nun sein zweites Buch über die aktuelle Situation in den USA geschrieben. Nach „Fremdes Land Amerika“ (2016) erschien Mitte Mai sein zweites Buch. In „Anderland“ verbindet der ehemalige USA-Korrespondent der ARD politische Beobachtungen mit privaten Erfahrungen.
In der Mayerschen Buchhandlung in Dortmund stellte er sich den vielen Fragen des Publikums und legte prompt mit einem Kapitel aus seinem neuen Buch los, in dem er einen Polizeieinsatz beschreibt. Ein Hubschrauber kreist niedrig über der Stadt. Es gab einen Vorfall in einer Pizzeria, wo Zamperoni sonst regelmäßig mit seiner Familie aß. Offenbar kolportierten GegnerInnen von Hillary Clinton im Internet, dass die damalige Präsidentschaftskandidatin im Restaurant einen geheimen Kinderpornokreis betreibe. An diesem Tag zog ein Irrer daraus die praktische Konsequenz und stürmte das Lokal mit Waffengewalt. Für Zamperoni ist dieser 4. Dezember 2016, den er in seinem Buch schildert, nicht nur ein Beweis für die konkrete Problematik von Fake-News.
Denn der Vorfall trug sich bereits vor Trumps Amtszeit zu, wie Zamperoni betont. Der Ehemann einer US-Amerikanerin und Schwiegersohn eines Trump-Wählers veranschaulicht damit, wie sehr der Antiestablishment-Kandidat das Ergebnis eines Zeitgeistes war. Als Reaktion auf Obama, auf liberale Reformen wie die Cannabis-Legalisierung oder die Ehe für alle. Und vor allem als Reaktion auf die bröckelnde Hegemonie des „Weißen Mannes“. „Weil es so ist, wie es ist, ist er Präsident geworden“, sagt Zamperoni über die Gründe von Trumps Wahl. „Es sind nicht nur die Abgehängten. Trump hatte alle quer durch die Gesellschaft angesprochen.“
Die Folgen seien für Zamperoni, der regelmäßig mit seiner Familie in die USA reist, innenpolitisch spürbar. Gab es bei den Wechseln von Carter zu Reagan, von Clinton zu Bush noch Dialoge zwischen DemokratInnen und RepublikanerInnen, so stünden sich die Lager aktuell feindseliger denn je gegenüber: „Das ist eine Kapitulation von Kommunikation in einer Gesellschaft, die immer weiter auseinanderdriftet.“
Aber Trump selbst hat viele Wahlversprechen umgesetzt, wie Zamperoni sagt. „Alles, was er tut, spricht diese Wähler an.“ Deswegen hält der Deutsch-Italiener eine erneute Amtszeit für durchaus möglich: „Ich glaube, dass er – gegen welchen Herausforderer auch immer – die besseren Chancen zur Wiederwahl hat.“
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