Darüber könnte man sich aufregen: „Lieb Vaterland, magst ruhig sein...“ erschallt es kurz im kleinen Saal an der Rottstraße. In Herbert Riklis Kriegsbilderbuch „Hurra“, das 1915 ideologisch den Krieg unterfüttern sollte, werden auch Verse der „Wacht am Rhein“ zitiert. Aber worüber aufregen?
Darüber, dass solche Verse eine aggressive Außenpolitik gutheißen? Oder über die Performance und Inszenierung der Actionlesung „Weltenbrand“ an sich? Die ist nüchtern, ja, fast emotionslos. Genauso wie die Bühnengestaltung: Die SchauspielerInnen Tanja Grix und Jörg Schulze-Neuhoff, beide in dezenten weißen Hemden, sitzen hinter den Lichtkegeln der Schreibtischlampen am Pult. Gelegentlich werden Hefte aus den Regalen geholt, dann wird weitergelesen. Man könnte sich also darüber aufregen, dass ein didaktischer, pazifistischer Zeigefinger ausbleibt. Das ist das theatralische Moment der Lesung an diesem Abend – eine nüchterne Performance des Eingedenkens: Unkommentiert, dreckig und mit brutaler Wucht – als wäre Walter Benjamins Rede davon, dass nichts ein Dokument der Kultur ist, ohne zugleich eines der Barbarei zu sein, der Lesung in die Glieder gefahren.
Literarisches Panoptikum: Schlachtfelder und Heimatfront
Das ist der Clou der Lesung: Eine ungefilterte Bergung der literarischen Archive. Der Auftakt mit Schillers Reflexionen über den Ästheten, dem es ums Wesen des Friedens gehe, wirkt da fast hilflos. Wie überhaupt der Abend vom Abstrakten ins gnadenlos Konkrete des Krieges abgleitet. Zunächst eröffnet Vernon Lee in ihrer gleichnamigen Satire den „Tanz der Völker“: Allegorisch, distanziert, aber spitzfindig und treffsicher wird das Grauen ironisiert, wenn die „Bühne des Westens“ mit stetig wachsendem Teil der tanzenden Völker als „ein unübertroffenes Schauspiel der Wandlung“ angeprangert und bitter festgestellt wird: „Etwa ein Vierteljahrhundert lang waren die berühmten Totentänze ziemlich außer Mode geraten.“
Dem Wahnsinn auf der Spur? Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“
Dann doch ein ironischer Kommentar zu dem Gelesenen: „Die hier, die glaubten auch an die Wahrheit“, kündigt Schulze-Neuhoff an, bevor er mit Tanja Grix überspitzt-pathetisch das von Ludwig Fulda verfasste „Manifest der 93“ verliest: „Wir als Vertreter deutscher Wissenschaft und Kultur erheben vor der gesamten Kulturwelt Protest gegen die Lügen und Verleumdungen, mit denen unsere Feinde Deutschlands reine Sache in dem ihm aufgezwungenen schweren Daseinskampfe zu beschmutzen trachten“, – ein primitiver Angriff auf den Pazifismus, der, was übel aufstößt, auch den Gegenwartsdiskurs über Auslandseinsätze ins Schwitzen bringt.
Mit anschließenden literarischen Schilderungen der Kriegsschauplätze driftet diese Wahrheit dann zu ihrem harten Kern ab – das was Joseph Conrad mal „Herz der Finsternis“ bezeichnet hat: dem Wahnsinn. Ob freiwillig oder unfreiwillig – Ernst Jünger vermag, genau das, „wie die Welt versinkt“, zu erfassen: „Der Tag hält nicht aus – schießt!“ Wenn das nicht kriegerischer Wahnsinn ist, wird doch der Krieg hier bellizistisch verherrlicht, gar als naturnotwendig dargestellt. Ein Dokument der Barbarei. Ernst Jünger wird ja wieder mit naiver Akzeptanz als Lektüre empfohlen. Darüber sollte man sich wirklich aufregen.
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