Oslo, Berlin, Essen: Tsitsi Dangarembga reist derzeit durch Europa. Dabei saß die bedeutendste Autorin Simbabwes in ihrer Heimat noch vor wenigen Tagen vor Gericht. Ihr wird der Prozess gemacht. Der Vorwurf der Machthaber an Tsitsi Dangarembga sowie die Journalistin Julie Barnes: Sie hätten an einer Versammlung teilgenommen, um zu öffentlicher Gewalt, Landfriedensbruch und Bigotterie aufzurufen.
Über die Anklage und den laufenden Prozess konnte die Schriftstellerin und Filmregisseurin nicht in der Lichtburg reden, wo sie auf Einladung verschiedener Initiativen und Einrichtungen mit der Leiterin des Literaturbüro Ruhr Antje Deistler über ihr Werk und die politische Situation in Simbabwe sprach.
Eines der 100 bedeutendsten Bücher
Alleine für ihr Œuvre wurde Dangarembga zahlreich geehrt, zuletzt im vergangenen Jahr mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und dem PEN International Award für Meinungsfreiheit. Die BBC nahm ihren Debütroman in die Liste der 100 bedeutendsten Bücher der Welt auf. Dabei war es ein langer Weg, bis sie mit Mitte 20 zur ersten Frau in Simbabwe avancierte, die einen englischsprachigen Roman schrieb.
Hiesige Verlage lehnten zunächst ab, den Roman „Nervous Conditions“ (1988) zu veröffentlichen; er erschien als „Aufbrechen“ in deutscher Übersetzung. Dieser Titel der späteren Romantiteltrilogie geht zurück auf ein Zitat von Jean-Paul Sartres Vorwort zu Frantz Fanons „Die Verdammten dieser Erde“, jenes 1961 veröffentlichten, antikolonialen Manifests, das den Befreiungskampf des Trikonts, der drei Kontinente Afrika, Asien und Lateinamerika, beeinflusste. Dangarembga erlebte die Hoffnungen und Rückschläge dieser Bewegung, schließlich wurde sie 1959 in der früheren britischen Kronkolonie Südrhodesien geboren. 1965 kehrte sie zurück, im Jahr der Unabhängigkeitserklärung, die zunächst einseitig von einer weißen Minderheitsregierung ausgerufen wurde.
Enttäuschte Freiheitshoffnung
Bis 1980 Robert Mugabe an die Macht kam. Sein Amtsantritt als Minister war mit emanzipatorischen Erwartungen verbunden. Dieser Unabhängigkeitsprozess bildete auch den Hintergrund für Dangarembgas autobiographisch gefärbten Debütroman „Aufbruch“. Darin geht es um die junge Protagonistin Tambu, die die Möglichkeit hat, eine Schuldbildung zu genießen. Doch sie stößt auf viele Hindernisse wie die patriarchalen Strukturen in ihrer Heimat und der postkolonialen Dominanz der Weißen, eine gesellschaftliche Wirklichkeit, die Dangarembga in ihrem Roman realistisch berücksichtigen wollte: „Simbabwe entwickelte sich anders, als ich es mir von der Unabhängigkeit erhoffte“, erzählt sie an diesem Abend. „Ich wollte für diese Figur eigentlich eine bessere Zukunft durch Bildung, aber so entwickelten sich eben nicht die Verhältnisse in Simbabwe.“
Westliche Vorurteile
Die Verhältnisse wurden auch nicht in den Folgejahren besser, in denen Dangarembga zur engagierten Schriftstellerin und Filmregisseurin avancierte. Heute blickt sie auf ein Land, in dem Mugabe später offen diktatorisch herrschte und schreckliche Hungersnöte ausbrachen. „Die Menschen sind alltäglich von Armut betroffen. Es gibt keinen funktionierenden Wohlfahrtsstaat“, sagt sie über die Gegenwart Simbabwes. Diese Verelendung führe zu Traumata, unter denen 70 Prozent der Bevölkerung litten, so Dangarembga. Diese psychischen Störungen erwähnte bereits der Arzt Fanon in den 60er Jahren. Und wie der Vordenker des Antikolonialismus spricht auch Dangarembga von weißen Vorurteilen, die sich etwa in Filmen wie „12 Years a Slave“ finde, so die Autorin: als Darstellung von „Schwarzen ohne Schmerzen“. Vorurteile fänden sich auch in der Entwicklungshilfe, die in der westlichen Öffentlichkeit als Anstoß für Erziehung und Bildung vermittelt werden. „In der weißen Vorherrschaft wird es so dargestellt, als bräuchten diese Menschen erst eine Entwicklung“, so Dangarembga, die auch eine funktionierende Infrastruktur in Simbabwe sieht: die Mienen. Doch die dienten nicht mal vordergründig der Entwicklung, sondern der Ausbeutung.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Entbehrungen, Rückschläge, Optimismus
„Gleis 11“ in der Lichtburg Essen – Foyer 01/21
Zwingli, ein europäischer Sozialreformer aus der Schweiz
NRW-Premiere von „Zwingli – Der Reformator“ am 22.10. in der Lichtburg, Essen – Foyer 10/19
Befehle aus der Hauptstadt
Premiere: „Deutschstunde“ mit Stars wie Tobias Moretti oder Ulrich Noethen am 1.10. in der Lichtburg Essen – Foyer 10/19
Diskursive Leinwand
Kino als Raum und Kunstform am European Art Cinema Day – Kino 10/18
Mut wird belohnt
Premiere von „Wer hat eigentlich die Liebe erfunden?“ von Kerstin Polte am 2.5. in Essener Lichtburg – Foyer 05/18
So ist Jugend
NRW-Premiere von Lars Kraumes „Das schweigende Klassenzimmer“ am 27.2. in der Essener Lichtburg – Foyer 03/18
Marx – ohne Bart, ohne Dogmen
Premiere: „Der junge Karl Marx“ am 1.3. in der Lichtburg Essen – Foyer 03/17
Eine andere Stadt
Filmpremiere zur „Grünen Hauptstadt Europas“ in der Lichtburg – spezial 02/17
Alte Herren in Action
West-Premiere von „Kundschafter des Friedens“ in der Lichtburg Essen – Foyer 01/17
Carla Juri bezaubert Essen
Premiere „Paula“ in die Essener Lichtburg – Foyer 12/16
Eine Frau, die ausbricht
NRW-Premiere von „Gleißendes Glück" in der Lichtburg Essen – Foyer 10/16
Loriots Female Peversions
Sandra Hüller und Maren Ade bei der Deutschland-Premiere von „Toni Erdmann“ in Essen – Foyer 07/16
Nordische Sagen für Kinder
Matt Ralphs’ aktuelles Sachbuch „Nordische Mythen“ – Vorlesung 03/23
Surren, Summen, Brummen
„Der große Schwarm“ von Kirsten Traynor – Vorlesung 03/23
Postmigrantische Erfahrungen
Lena Gorelik liest in Dortmund – Lesung 03/23
„Bildung spielt in unserem Land keine große Rolle“
Hilmar Klute über seinen Roman „Die schweigsamen Affen der Dinge“ – Interview 03/23
Im Labyrinth der Opferbilder
Heidi Furre zeigt in „Macht“ die Folgen des Missbrauchs – Textwelten 03/23
Comic, Film, Comic-Film?
Von Comics, Graphic Novels und Animationsfilmen – ComicKultur 03/23
Fränge, Förster und die Wilde 13
Frank Goosen stellt seinen neuen Roman vor – Literatur 03/23
Vaters Schatten-Ich
Gro Dahles und Svein Nyhus’ Kinderbuch „Bösemann“ – Vorlesung 03/23
Melodie der Zuversicht
„Der Hoffnungsvogel“ von Kirsten Boie – Vorlesung 02/23
Bloß kein Realismus
Dortmunds neuer „Stadtbeschreiber“ Alexander Estis stellt sich vor – Literatur 02/23
Leidenschaft an der Ladenkasse
Autor Pierric Bailly in Essen – Literatur 02/23
Die Party ist vorbei
Marta Orriols‘ Blick ins Leben der Paare – Textwelten 02/23
Stürmische Liaison
„Der junge Mann“ von Annie Ernaux – Klartext 02/23