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Tsitsi Dangarembga (rechts) in der Lichtburg Essen
Foto: Benjamin Trilling

Das Vorurteil Entwicklungshilfe

24. Juni 2022

Friedenspreisträgerin Tsitsi Dangarembga in Essen – Literatur 06/22

Oslo, Berlin, Essen: Tsitsi Dangarembga reist derzeit durch Europa. Dabei saß die bedeutendste Autorin Simbabwes in ihrer Heimat noch vor wenigen Tagen vor Gericht. Ihr wird der Prozess gemacht. Der Vorwurf der Machthaber an Tsitsi Dangarembga sowie die Journalistin Julie Barnes: Sie hätten an einer Versammlung teilgenommen, um zu öffentlicher Gewalt, Landfriedensbruch und Bigotterie aufzurufen.

Über die Anklage und den laufenden Prozess konnte die Schriftstellerin und Filmregisseurin nicht in der Lichtburg reden, wo sie auf Einladung verschiedener Initiativen und Einrichtungen mit der Leiterin des Literaturbüro Ruhr Antje Deistler über ihr Werk und die politische Situation in Simbabwe sprach.

Eines der 100 bedeutendsten Bücher

Alleine für ihr Œu­v­re wurde Dangarembga zahlreich geehrt, zuletzt im vergangenen Jahr mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und dem PEN International Award für Meinungsfreiheit. Die BBC nahm ihren Debütroman in die Liste der 100 bedeutendsten Bücher der Welt auf. Dabei war es ein langer Weg, bis sie mit Mitte 20 zur ersten Frau in Simbabwe avancierte, die einen englischsprachigen Roman schrieb.

Hiesige Verlage lehnten zunächst ab, den Roman „Nervous Conditions“ (1988) zu veröffentlichen; er erschien als „Aufbrechen“ in deutscher Übersetzung. Dieser Titel der späteren Romantiteltrilogie geht zurück auf ein Zitat von Jean-Paul Sartres Vorwort zu Frantz Fanons „Die Verdammten dieser Erde“, jenes 1961 veröffentlichten, antikolonialen Manifests, das den Befreiungskampf des Trikonts, der drei Kontinente Afrika, Asien und Lateinamerika, beeinflusste. Dangarembga erlebte die Hoffnungen und Rückschläge dieser Bewegung, schließlich wurde sie 1959 in der früheren britischen Kronkolonie Südrhodesien geboren. 1965 kehrte sie zurück, im Jahr der Unabhängigkeitserklärung, die zunächst einseitig von einer weißen Minderheitsregierung ausgerufen wurde.

Enttäuschte Freiheitshoffnung

Bis 1980 Robert Mugabe an die Macht kam. Sein Amtsantritt als Minister war mit emanzipatorischen Erwartungen verbunden. Dieser Unabhängigkeitsprozess bildete auch den Hintergrund für Dangarembgas autobiographisch gefärbten Debütroman „Aufbruch“. Darin geht es um die junge Protagonistin Tambu, die die Möglichkeit hat, eine Schuldbildung zu genießen. Doch sie stößt auf viele Hindernisse wie die patriarchalen Strukturen in ihrer Heimat und der postkolonialen Dominanz der Weißen, eine gesellschaftliche Wirklichkeit, die Dangarembga in ihrem Roman realistisch berücksichtigen wollte: „Simbabwe entwickelte sich anders, als ich es mir von der Unabhängigkeit erhoffte“, erzählt sie an diesem Abend. „Ich wollte für diese Figur eigentlich eine bessere Zukunft durch Bildung, aber so entwickelten sich eben nicht die Verhältnisse in Simbabwe.“

Westliche Vorurteile

Die Verhältnisse wurden auch nicht in den Folgejahren besser, in denen Dangarembga zur engagierten Schriftstellerin und Filmregisseurin avancierte. Heute blickt sie auf ein Land, in dem Mugabe später offen diktatorisch herrschte und schreckliche Hungersnöte ausbrachen. „Die Menschen sind alltäglich von Armut betroffen. Es gibt keinen funktionierenden Wohlfahrtsstaat“, sagt sie über die Gegenwart Simbabwes. Diese Verelendung führe zu Traumata, unter denen 70 Prozent der Bevölkerung litten, so Dangarembga. Diese psychischen Störungen erwähnte bereits der Arzt Fanon in den 60er Jahren. Und wie der Vordenker des Antikolonialismus spricht auch Dangarembga von weißen Vorurteilen, die sich etwa in Filmen wie „12 Years a Slave“ finde, so die Autorin: als Darstellung von „Schwarzen ohne Schmerzen“. Vorurteile fänden sich auch in der Entwicklungshilfe, die in der westlichen Öffentlichkeit als Anstoß für Erziehung und Bildung vermittelt werden. „In der weißen Vorherrschaft wird es so dargestellt, als bräuchten diese Menschen erst eine Entwicklung“, so Dangarembga, die auch eine funktionierende Infrastruktur in Simbabwe sieht: die Mienen. Doch die dienten nicht mal vordergründig der Entwicklung, sondern der Ausbeutung.

Benjamin Trilling

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