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Der Film zur „Grünen Hauptstadt Europas“ zeigte ein Ruhrgebiet jenseits der Schwerindustrie
© Johannes Kassenberg

Eine andere Stadt

23. Februar 2017

Filmpremiere zur „Grünen Hauptstadt Europas“ in der Lichtburg – spezial 02/17

Dass Essen stolz ist auf den Titel der Grünen Hauptstadt Europas, zeigte die Stadt bereits Ende Januar mit der ausgiebigen Eröffnungsveranstaltung im Gruga-Park; bei eher lauen Temperaturen gab man sich hier ganz mediterran und feierte outdoor die Übergabe der begehrten Auszeichnung durch die slowenische Hauptstadt Ljubljana an die zweitgrößte Stadt im Ruhrgebiet. Nun, einen Monat später, laden die Filmemacher Frank Bürgin und Johannes Kassenberg in die ausverkaufte Lichtburg. Der Film, der hier an diesem Abend seine Welturaufführung feiert, ist ein Zusammenschnitt aus mehr als fünfzig Stunden Filmmaterial und kennt nur einen Protagonisten – Essen selbst. Dabei beweist der Premierenort allein, was der grüne Hauptstadt-Titel für die Stadt ist: Eine ganz große Sache.

Eindrucksvolle Fotos: Der Mensch in Symbiose mit der Natur, Filmstill: Johannes Kassenberg 

Fritz Pleitgen ist hier, Oberbürgermeister Thomas Kufen ist hier, und auch, wie sich später zeigen wird, der Schauspieler Peter Lohmeyer. Bevor jedoch Bilder vom Stadtwald, der Margarethenhöhe, der Emscher oder Zollverein gezeigt werden, richtet sich der Oberbürgermeister an die Zuschauer im Saal. „Erlebe Dein Grünes Wunder" ist der offizielle Slogan der Grünen Hauptstadt – und außerdem Programm: „Die Entwicklung einer Stadt, die geprägt ist von Kohle und Stahl, ist in der Tat ein wahr gewordenes Wunder“, so Kufen. „Wir können sehr stolz sein auf unsere Heimat, auf die hohe Lebensqualität, die wir hier erreicht haben, bei all dem, was bisher noch nicht so zufriedenstellend ist, wie wir uns das alle wünschen.“ Doch es gilt, sich nicht auf den Lorbeeren des europäischen Titels auszuruhen. Ein Jahr lang hat Essen Zeit, zu beweisen, dass es mehr kann als Strukturwandel, dass das ewige Image der Montanstadt genauso historisch ist wie die Montanindustrie selbst. Die Frage, wie viel gestern das morgen verträgt – oder gar braucht – ist eine andere. Bei einer Sache ist sich Kufen jedoch sicher: Das Wir, das Miteinander, ist der springende Punkt jeder Stadt, nicht nur, aber doch auch, wenn es um das Leben in einer grünen Hauptstadt geht: „Wir entscheiden, welche Bilder in diesem Jahr von Essen ausgehen, welche Bilder wir in Europa präsentieren, und wie wir auch in Zukunft gesehen werden.“

Die Bilder des Films zeigen vor allem, wie die Filmemacher Johannes Kassenberg und Frank Bürgin Essen sehen. Ihre Aufnahmen erzählen von einer Stadt im Ruhrgebiet und ihren Bewohnern, mal aus der Frosch-, mal aus der Vogelperspektive, mal im Porträt, mal aus der Ferne. Von Schäfern und Designern, von Bauern, Förstern und Hobby-Ornithologen. Kassenbergs Kopter-Pilot fliegt gelenkig über die Heisinger Ruhraue, während Bürgins Stimme das reale Märchen von Essen erzählt. Es sind eindrucksvolle Aufnahmen in höchster Auflösung: Ein Schiff etwa, das ungestört den Rhein-Herne-Kanal befährt; die Emscher, in der sich das Licht der untergehenden Sonne spiegelt, während ihr Umland sich bereits im Halbdunkel des nahenden Abends befindet; in Karnap zoomt die Kamera so weit aus einer Schrebergartensiedlung heraus, dass ihr Kleingärtner zu einem einzigen blauen Flecken wird. Ein blauer Fleck, umgeben von Grün. Denn grün ist es hier, fast ein jedes Bild zeigt immense Mengen von Wald und Bäumen, die an Bächen oder Flüssen liegen. In weiter Ferne, geradezu unbekannt, zeichnet sich die Essener Innenstadt mit ihren Hochhäusern ab; ob Evonik, RWE, Rathaus oder Gildehof – all dies macht den Anschein einer anderen Welt.

Der Rheinische Platz, das Sorgenkind der Essener Innenstadt, Filmstill: Johannes Kassenberg 

Dabei sieht selbst das Enfant Terrible der Essener City, der Rheinische Platz, bei Sonnenlicht im Drohnenflug weit weniger ungemütlich aus als es etwa der Fall an einem Mittwochvormittag im Februar ist. Kassenberg und Bürgin haben ihre Kamera ausschließlich bei gutem Wetter durch die Stadt geschickt; ihre Aufnahmen datieren aus dem Sommer 2016 oder dem frühen Herbst, dessen goldenes Licht etwa den Park der Villa Hügel oder die Schurenbachhalde prächtig erstrahlen lässt. Rückblenden in die Zeit vor dem grünen Wunder, der Industrialisierung, die diese Region stark machte und zugleich Motor all ihrer Probleme war, sind in Schwarz-Weiß gehalten. Jenseits aller Porträts engagierter Bürger wird spätestens hier deutlich, dass der Film zur Grünen Hauptstadt Europas vor allem eines ist: Ein Imagefilm.

Aber ist das so schlimm? Und ist das wirklich überraschend? Nein, und nein. Auch dass die Farbe grün hier überwiegt, ist nicht verwunderlich. Und doch lässt sich der Gedanke nicht vertreiben, dass diese Stadt Essen zwar ähnlich ist – und doch nicht Essen ist. „So sieht unsere Stadt jetzt aus“, hatte Thomas Kufen vor der Filmpremiere erklärt und doch zugleich hinzugefügt: „Die Filmemacher zeigen unser grünes Essen heute wahrscheinlich so, wie Sie es noch nie gesehen haben, aus der Vogelperspektive.“ Ob allein die Perspektive Schuld hat an dem Gefühl der Andersartigkeit oder ob es die Selbstbeweihräucherung ist, die dem Ruhrgebiet nicht steht und seinen Bewohnern nicht liegt, ist einerlei. Wunsch und Gegenwart vermischen sich in diesem Film und ernten in ihrer Symbiose doch wohlwollenden Applaus.

Ob in Haarzopf oder am Rhein-Herne-Kanal: Essen grünt, Filmstill: Johannes Kassenberg 

Die anschließende Gesprächsrunde, moderiert von Fritz Pleitgen, holt all jene zurück ins Jetzt, denen der grüne Streifen schlicht zu schön und friedlich war. Gemeinsam diskutieren Thomas Kufen, Umweltdezernentin Simone Raskob sowie die Filmemacher Kassenberg und Bürgin über den langen Weg von der Bewerbung bis zum heutigen Tag – und was darauf folgen muss. Dabei ist es vor allem Raskob, die auf jene Schwachstellen hinweist, die auch im Bewerbungsprozess zum Tragen kamen: „Wir waren im Schnitt auf Platz 1 bis 3, aber im Verkehr auf Platz 7, da waren wir am schlechtesten von allen Teilnehmern. Das ist auch der Bereich, in dem wir am meisten arbeiten müssen.“ Gerade das Stichwort Mobilität, die „Achilles-Verse“ der Stadt, wie es Raskob formuliert, muss dabei in den kommenden Jahren verbessert werden. Hier zeigt sich, dass bei der Bewerbung um den Titel der Grünen Hauptstadt der Anteil an Grünflächen allein nicht reicht. Es sind die zukunftsorientierten Strategien einer Stadt, die sie auch auf lange Sicht zu einer grünen Hauptstadt machen. 

Fritz Pleitgen, Peter Lohmeyer, Frank Bürgin, Johannes Kassenberg, Simone Raskob und Thomas Kufen im Gespräch (v.l.n.r.), Foto: Barbara Slotta 

Doch der Abend hält eine weitere Überraschung bereit, als schließlich Schauspieler Peter Lohmeyer die Gesprächsrunde erweitert: „Ich bin völlig fertig, weil ich mir das nicht vorgestellt habe“, lobt er den Film von Kassenberg und Bürgin. „Ich komme eigentlich aus Bochum, Essen kenne ich auch, aber eigentlich nur den Weg vom Bahnhof hierher.“ Ein wenig neidisch sei er nun, obwohl er mittlerweile in Hamburg wohnt. Dabei war gerade die Stadt an der Alster bereits 2011 grüne Hauptstadt. „Aus Hamburg, aus Ljubljana, aus Stockholm und aus Kopenhagen eine grüne Hauptstadt zu machen, ist ja schon fast keine Kunst“, meint Pleitgen und wendet sich abschließend zu Oberbürgermeister Kufen und seiner Kollegin Raskob. „Aber was Sie hier geleistet haben, aus einer Schwerindustriestadt eine grüne Hauptstadt zu machen, ist wirklich eine reife Leistung.“

Diese reife Leistung ist das Produkt jahrzehntelanger Arbeit, die mehr als eine Generation, mehr als eine Umweltdezernentin und mehr als einen Stadtplaner beanspruchte. Sie ist genauso wenig zu stemmen ohne die Bürger dieser Stadt. Dies alles im Sinn, will man der Stadt Essen an diesem Abend weder ihre Grünflächen noch ihre engagierten Bewohner absprechen, genauso wenig besteht kein Grund, die Wahrhaftigkeit von Kassenbergs und Bürgins Aufnahmen anzuzweifeln. Und doch verlässt man die Lichtburg nicht ohne das Gefühl, dass noch einiges zu tun ist, bis diese Bilder sich nach der Stadt anfühlen, in der wir heute leben. 

Barbara Slotta

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