Essen, den 27.2.: Bitterkalt ist es auf der Kettwiger Straße. Von Minusgraden und dem schneidenden Wind ungerührt tummeln sich wie bei jeder Premiere in der Lichtburg Kinoliebhaber hinter der Absperrung. Ein paar bibbernde Fotografen und ein WDR-Team harren ebenfalls aus, bis die Gäste eintreffen. Regisseur Lars Kraume, der vor zwei Jahren schon mit seinem preisgekrönten „Der Staat gegen Fritz Bauer“ in Essen war, kommt mit Lena Klenke und Leonard Scheicher, alle vepackt in dicke Winterjacken. „Das ist ja noch kälter als in Berlin hier“, fröstelt es Scheicher. Die Weltpremiere von „Das schweigende Klassenzimmer fand eine Woche zuvor während der Berlinale statt. Der eigentliche Star des Abends ist aber Dietrich Garstka. In der 2006 veröffentlichten, gleichnamigen Buchvorlage verarbeitete er seine eigene Geschichte von Flucht und Neuanfang.
Die Handlung des Films setzt Ende 1956 ein. Theo (Leonard Scheicher) und Kurt (Tom Gramenz) erfahren bei einem Ausflug nach Westdeutschland durch die Wochenschau zufällig, wie unterschiedlich die Berichterstattung über den Ungarischen Volksaufstand in Ost- und Westdeutschland ausfällt. Zurück in ihrer Heimat Stalinstadt verfolgen sie heimlich mittels des Westsenders „Rias“ gemeinsam mit KlassenkameradInnen die Entwicklung der Ereignisse. Sie hören, wie die Sowjetunion brutal gegen die vom Westen als Freiheitskämpfer, vom Osten als faschistische „Konterrevolutionäre“ verurteilten Ungarn vorgeht. Die Mehrheit der Abiturklasse beschließt, im Unterricht eine solidarische Schweigeminute für die Opfer des Aufstands abzuhalten.
Das ruft zunächst den Schuldirektor, dann eine strenge Kreisschulrätin und schließlich den Volksbildungsminister auf den Plan. Die Solidaritätsbekundung wird selbst zur „Konterrevolution“ erklärt. Der Anführer des Protest soll denunziert werden, andernfalls droht der gesamten Klasse der kollkektive Ausschluss vom Abitur. Das bedeutet: keine Aufstiegschancen, sondern schuften als ArbeiterIn. Was als jugendlicher Überschwang begann, zwingt die SchülerInnen dazu, ihre eigenen Überzeugungen und das Regime, in dem sie leben, zu hinterfragen und Position zu beziehen.
Kraume widmet sich damit wie schon in seinem letzten Film einem Stück deutsch-deutscher Geschichte. Wie in „Der Staat gegen Fritz Bauer“ ist auch in „Das schweigende Klassenzimmer“ das authentische Setting bis in den kleinsten Winkel der Mise-en-scène perfekt. Mit der Figur Bauers stand ein Zeitzeuge der Verbrechen des Nationalsozialismus sowie Trauma und Verlust einer ganzen Generation im Mittelpunkt. „Das schweigende Klassenzimmer“ spielt fast zur gleichen Zeit, sprüht aber nur so vor Aufbruchstimmung und Lebenshunger, getragen von dem hervorragenden Cast an JungschauspielerInnen. Neben den in Essen Anwesenden stechen vor allem Tom Gramenz als „Rädelsführer“ Kurt und Jonas Dassler als glühender Sozialist Erik hervor.
Sie alle bilden den Gegenpol zu einer im Werden begriffenen Diktatur, verkörpert durch die Erwachsenen. Burghart Klaußner (in „Der Staat gegen Fritz Bauer“ noch der Titelheld), Jördis Triebel als hassenswerte Kreisschulleiterin Kessler und Max Hopp stehen für die typischen Rollen, die die DDR hervorbrachte: Profiteure, Spitzel, Ideologen und Mitläufer. Auf der anderen Seite sind da die Menschen, die nach einem verheerenden Krieg einfach nur auf ein besseres Leben hoffen. Wie Theos Vater (Ronald Zehrfeld) oder der Schuldirektor (Florian Lukas), für deren Verhalten der Film Verständnis aufbringt. Ein mitreißender Film über Eigenverantwortung, Solidarität und Freiheit.
Nach der Vorführung bittet Marianne Menze, Chefin der Essener Filmkunsttheater und auf der Berlinale 2018 mit dem Ehrenpreis der Filmverleiher ausgezeichnet, die Gäste auf die Bühne. Kraume erklärt, dass er die Erwachsenen bewusst mit SchauspielerInnen besetzt habe, die selbst im Osten sozialisiert wurden. Jede/r von ihnen konnte so eigene Erinnerungen in die jeweilige Rolle einbringen. Auf die Frage, was er an der Vorlage für das Drehbuch verändert habe, antwortet Kraume: „Wahre Ereignisse zu verfilmen bedeutet immer ein Dilemma“. Historisch akkurat solle es sein, aber trotzdem einen dramatisch dichten Film ergeben. Er ergänzt: „Ich wollte nicht, dass die Zuschauer aus dem Kino kommen und sagen: ‚Mag ja alles so gewesen sein, aber es war fruchtbar langweilig‘“.
Gelangweilt hat sich an diesem Abend gemessen am Applaus niemand. Wie sieht es mit der historischen Genauigkeit aus? Derjenige, der das am besten beurteilen kann, scheint zufrieden. Dietrich Garstka, Jahrgang 1939, wirkt neben den jungen SchauspielerInnen, Produzentin Miriam Düssel und Kraume rein äußerlich fast zerbrechlich. Sein Optimismus und Kampfgeist sind seit den Vorfällen 1956 in der DDR, die auch ihn zur Flucht zwangen, ungebrochen. Nach dem Studium im Westen arbeitete er jahrelang als Lehrer und bewahrte sich einen unerschütterlichen Glauben an die Jugend. „Die Jugend von heute ist nicht anders als die Jugend damals“, sagt er bestimmt. Junge Menschen hätten noch immer einen Hunger nach Abenteuer, nach Freiheit, daran habe sich nichts geändert. „So ist Jugend! Das wollten wir mit diesem Film zeigen, am Beispiel einer Jugend in der Diktatur“, bekräftigt Garstka, Lars Kraume nickt.
Der Schlusssatz gehört dann im Geiste des Films einem der jungen Menschen auf der Bühne. Leonard Scheicher spielt in Kraumes Film nach „Es war einmal Indianerland“ erst seine zweite Hauptrolle. Als er geboren wurde, gab es die DDR nicht mehr, Ost und West waren wiedervereinigt, die Mauer nur ein Relikt der Geschichte. Wie seine Figur Theo sei auch er zuvor eher unpolitisch gewesen, wie er unumwunden zugibt. „Der Film soll dazu ermutigen, sich politisch zu bilden, sich zu informieren und Widerstand gegen Ungerechtigkeit zu leisten“, sagt Scheicher nachdrücklich. Ein wichtiger Appell, der nicht nur für die Jugend gilt, sondern auch bei Erwachsenen nicht ungehört verklingen sollte.
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