Im Ruhrgebiet stehen sich die Fans von Borussia Dortmund und Schalke 04 feindselig gegenüber. Die einen tragen gelb-schwarze, die anderen blau-weiße Trikots. Schon von Weitem ist klar, wer auf welcher Seite steht. Wenig später gibt es ein Länderspiel: Deutschland spielt gegen die Niederlande. Die, die sich kurz zuvor noch in gelb-schwarz und blau-weiß anfeindeten, stehen heute in weißen Deutschlandtrikots, gemeinsam im gleichen Fanblock und schimpfen auf die Holländer.
Was sich hier im Fußballstadion zeigt, verdeutlicht, wie wir uns Gruppen zuordnen und ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln. Wir identifizieren uns mit der Gruppe und grenzen uns gleichzeitig von anderen ab. Die Sozialpsychologie spricht von sozialer Identität. Und natürlich tendieren wir dazu, unsere eigene Gruppe zu idealisieren. Im Stadion zeigt sich aber auch, dass der Zusammenhang darüber entscheidet, welche Identität – Dortmunder oder Deutscher – gerade zum Tragen kommt. Und es zeigt sich, dass das Gefühl einer übergeordneten gemeinsamen Identität helfen kann, aus Gegnern Verbündete zu machen.
Vor nicht allzu langer Zeit standen sich in Europa Armeen – zum Beispiel deutsche und französche –gegenüber. Nicht mit Fußbällen, sondern mit tödlichen Projektilen wurde geschossen. Was heute schwer vorstellbar scheint, war in der europäischen Geschichte eher der Regelfall als die Ausnahme. Auf die nationale Identität kam es an: Nicht als Europäer, sondern als Deutscher oder Franzose sah man sich. Nach 1945 begannen schließlich kriegsmüde Europäer auf wechselseitige wirtschaftliche Abhängigkeiten und Diplomatie zu setzen. Aus diesem Grundstein bildete sich das, was wir heute als Europäische Union kennen: ein Friedensprojekt.
So richtig europäisch fühlen sich die meisten Europäer aber trotzdem bis heute nicht. Mit der EU verbinden viele von ihnen ein unkontrollierbares Bürokratiemonster, das irgendwo in Brüssel sein Unwesen treibt. Und europaweiter Frieden gilt heute ohnehin als gegeben. Stattdessen propagieren rechtspopulistische Politiker trennende nationale Identitäten anstatt an eine gemeinsame europäische zu appellieren.
Doch was braucht eine europäische Identität? Eine gemeinsame Währung? Eine gemeinsame Sprache? Eine gemeinsame Kultur? Eine gemeinsame Geschichte? Muss es vielleicht – wie im Fußball – einen Gegner geben, von dem man sich abgrenzen kann? Möglicherweise hilft auch ein gemeinsames Narrativ. Doch eine solche gemeinsame Erzählung, einen gemeinsamen Gründungsmythos, gebe es für Europa nicht, stellte der damalige Bundespräsident Joachim Gauck einst klar. Stattdessen gebe es aber gemeinsame Ziele und Werte, für die man in Europa stehe – „für Frieden und Freiheit, für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, für Gleichheit, für Menschenrechte, für Solidarität.“
Wohin sich Europa in den nächsten Jahrzehnten entwickelt, ist noch nicht abzusehen. Hinweise könnte die Wahl Ende Mai geben. Derzeit haben es pro-europäische Politiker jedoch schwer. Die, die auf Nationalismus setzen, sind wieder im Aufwind. Wohin das führen kann, hat man im letzten Jahrhundert gesehen. Bleibt zu hoffen, dass die Politik nicht noch weiter in diese Richtung abdriftet – damit in Europa nur Fußbälle geschossen werden.
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