Reif für die Insel, das ist im Februar irgendwie schon jeder wieder. Wer träumt nicht davon, kurzfristig das Handtuch zu schmeißen, möglichst auf einen schönen Liegestuhl am Pool, ganz weit weg. Vielleicht auch auf den Rücksitz eines bunt bemalten Bullis. Die ganz Mutigen malen sich blutrünstige Kündigungsszenarien aus, während sie frierend an der Bushaltestelle stehen. „Sag alles ab“, empfahlen die Hamburger Indie-Barden Tocotronic. Aber mit nassen Füssen ist das ja nicht so einfach.
Da proben wir den Aufstand lieber im Mini-Format, klauen heimlich dem Chef das Klopapier oder buchen uns zwei Wochen Inselfeeling. Und so finden sich am Strand von Sansibar der Berliner und die Schwäbin im trauten Stelldichein wieder. Oder sitzen auf den Kanaren und schauen Trommlern und Feuertänzern zu. Nur, wirklich weit führt das nicht. Und irgendwie ist auch immer schon ein Deutscher vor einem da, wahlweise mit Handtuch oder künstlerisch aufgeschichteten Steintürmchen.
Gibt es wirklich einen Weg „raus“, der weiter führt als mal eben zwei Wochen Yoga-Retreat oder Fastenurlaub auf Rügen? Wenn schon im Sonntagsnachmittagsprogramm der ARD Dokumentationen über das konsumfreie Leben jenseits der Leistungsgesellschaft laufen, wo soll man dann noch Alternativen suchen?
Die Ausstiegsindustrie boomt – unzählige Ratgeber für Freiheitssuchende und Selbstversorger werden gedruckt, Volkshochschulen bieten Kurse im Nein-Sagen an, das Manager Magazin erklärt, wie man mit spätestens 50 Jahren dem Berufsleben entkommt, eine Nacht im Kloster kostet 49 Euro, drei Tage Seminar „Aussteigen auf Zeit“ im gewerkschaftsnahen Bildungszentrum knappe 1.000 Euro. Dann vielleicht doch lieber der harmonisierende Auszeit-Tee „Leib und Seele“ für 3,99 Euro pro hundert Gramm.
Stellvertretende Bedürfnisbefriedigung: einige Stunden oder Tage den großen Traum träumen, um danach umso besser zu funktionieren. Ein schlechtes Gewissen müssen wir nicht haben: Tagträume fördern die Fähigkeit, Probleme zu lösen und klug zu planen, allein schon, weil der ständige Informationsfluss des Alltags kurz unterbrochen werde, so der Hirnforscher Jonathan Schooler. Wie praktisch. Und naja, diese Sabbatical-Nummer, die sich jeder Zweite wünscht, ein halbes Jahr oder länger Überstunden abfeiern oder unbezahlt urlauben – dahinter steckt bei erschreckend vielen Menschen in erster Linie der Wunsch, einem Burn-Out vorzubeugen. Tja, und diese Leute, die es wirklich wagen, alles hinter sich zu lassen, die mit dem Fahrrad um die Welt ziehen oder minimalistisch im Wald leben, die stehlen sich ja nur fort aus ihrer gesellschaftlichen Verantwortung, die sind ja nur auf sich selbst bezogen und naiv. Wer vor der Welt flieht, der verändert sie nicht. Oder?
Gute Argumente, alles so zu lassen, wie es ist. Und wenn dann wieder jemand seufzt „Ich bin reif für die Insel“, dann nickt man wissend. Und stapelt mit einem leisen Gefühl des Bedauerns seine Handtücher extra ordentlich im Schrank.
Lesen Sie weitere Artikel
zum Thema auch unter: choices.de/thema und engels-kultur.de/thema
Aktiv im Thema
www.idealist.org | Internationale Jobbörse, die IdealistInnen in nachhaltige Projekte weltweit vermittelt
www.101places.de | Reiseblog für Backpacker und digitale Nomaden
www.healthyhabits.de | Blog für Menschen, die eigentlich glücklich sein müssten. Bietet Tipps, geistig und körperlich gesunde Gewohnheiten in den Alltag zu integrieren und diesen aktiv zu gestalten, statt ihm zu entfliehen
Thema im März FREMDKÖRPER
Nicht Behinderte sind das Problem, sondern die Gesellschaft, in der sie leben
Was ist Ihr Handikap? Schreiben Sie uns unter meinung@trailer-ruhr.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Wovon träumt der Hamster im Rad?
Nächster Halt: Autonomie – THEMA 02/17 WELTFLUCHT
„Deutschland ist eines der komfortabelsten Länder, in denen man leben kann“
Blogger Patrick Hundt über das Reisen und die Rückkehr in den Alltag – Thema 02/17 Weltflucht
Abrisspläne
Intro – Altmodisch bauen
Die deutsche Stadt trotzt der Zukunft
Politik schreckt vor nachhaltiger Infrastruktur zurück – Teil 1: Leitartikel
„Einfamilienhäuser müssen wir ablehnen“
Landschaftsarchitektin Simone Linke über Städte im Klimawandel – Teil 1: Interview
Nicht nur Biene Maja
Mülheimer Verein Wilde Biene kämpft für Insektenschutz – Teil 1: Lokale Initiativen
Prima wohnen
Alternative Rohstoffe in der Baubranche – Teil 2: Leitartikel
„Die Betonindustrie verändert sich“
Felix Jansen (DGNB) über Hindernisse auf dem Weg zu nachhaltigem Bauen – Teil 2: Interview
Auf Sand gebaut
Kölner Architekt Thorsten Burgmer über nachhaltiges Bauen – Teil 2: Lokale Initiativen
Unterirdische Energiebilanz
Kleinbäuerliche Strukturen effizienter als Agro-Industrie – Teil 3: Leitartikel
„Man kann Nullkosten entstehen lassen“
Permakultur-Gärtnerin Hannelore Zech über das Konzept der Selbstversorgung – Teil 3: Interview
Solidarisch selbstversorgt
Permakulturhof Vorm Eichholz in Wuppertal – Teil 3: Lokale Initiativen
Superblocks, super Stadt?
Weniger Autoverkehr in Barcelona – Europa-Vorbild: Spanien
Machmenschen
Was es braucht für die grüne Stadt – Glosse
Gerechtes neues Jahr
Intro – Armut leicht gemacht
Nachrichten als Krise
Medienfrust und der Vertrauensverlust des öffentlich-rechtlichen Rundfunks – Teil 1: Leitartikel
„Berichterstattung beeinflusst politische Entscheidungen“
Journalismusprofessor Kim Otto über den Wandel im Wirtschaftsjournalismus – Teil 1: Interview
Gegen die soziale Kälte
Duisburger Initiative „Unsere Armut kotzt uns an“ – Teil 1: Lokale Initiativen
Perspektiven gegen Armut
Das Herner Sozialforum – Teil 1: Lokale Initiativen
Angst und Unwissen
Ökonomische Bildung darf nicht mehr Mangelware sein – Teil 2: Leitartikel
„Eindeutig ein Defizit bei der Demokratiebildung“
GEW-Vorsitzende Maike Finnern über gerechte Schulbildung – Teil 2: Interview
„Um den Armen zu geben, braucht man nicht das Geld der Reichen“
Ökonom Maurice Höfgen über Staatsfinanzierung und Wohlstand – Teil 2: Interview
Wirtschaft für alle
Die Gruppe Gemeinwohl-Ökonomie Köln-Bonn – Teil 2: Lokale Initiativen
Klassenkampf von oben
Reiche und ihre politischen Vertreter gönnen den Armen nicht das Schwarze unter den Fingernägeln – Teil 3: Leitartikel
„Die Crux liegt in der Lohnstruktur“
Ökonomin Friederike Spiecker über Ursachen und Bekämpfung von Armut – Teil 3: Interview