Das Besondere an den Brüdern Lumière hat nichts mit dem cinematographischen Apparat zu tun. Was diesen Namen in die Filmgeschichte meißelt, ist die Umsetzung einer organisierten Publikumsvorführung, die Situation einer kollektiven, synchronen Wahrnehmung. Gegen Geld, versteht sich. Die Welt mal „mit anderen Augen sehen“, oder eine bessere Welt sehen – dann aber ab nach Hollywood. Heute, in der Massenherstellung digitaler Welten, erweckt man nicht nur Welten zum Leben, man lebt selbst in ihnen, manche sogar, um das Überleben zu erlernen.
Harun Farocki zeigt solche Wahrnehmungsapparaturen von simulierten Welten in seinem Vierteiler „Ernste Spiele“ am Donnerstagmittag. Mit seinem Team war er in Ausbildungsstätten der U.S. Army sowie in militärpsychologischen Instituten und filmte Soldaten bei Übungen am PC oder bei nachgestellten Szenen an Übungsplätzen. „Ernste Spiele“ bereiten Soldaten auf Einsätze in Afghanistan oder im Irak vor, bilden sie aus, detraumatisieren aber auch. Eine ganze Industrie aus Softwareentwicklern und Psychologen ist in den USA bemüht, den traumatisierten GI durch das virtuelle Wiedererleben seiner Erzählung zu „normalisieren“. Farocki als Filmemacher und Vortragender, der zwischen den vier Teilen aus seinen „Lectures“ liest, macht ohne politische Aufladung deutlich, was es bedeutet, wenn die Gefechtssituation per Mausklick jedem so vetraut sein kann wie das Bild, das man sieht, wenn man aus dem Fenster schaut.
Ergreifendes Geschwisterportrait
Die Regisseurin Britta Wandaogo dreht seit Jahren Dokumentarfilme für den WDR. Mit ihrem Film „1200 brutto“ war sie Preisträgerin beim Bochumer Blicke-Festival 2008, 2009 nahm sie mit der Fortsetzung „Ohne mein viertes Kind“ an der Duisburger Filmwoche teil. Ihr neuer Film „Nichts für die Ewigkeit“ portraitiert das Verhältnis zu ihrem heroinsüchtigen Bruder. Mehr Kompilation denn Dokumentation, entwirft sie einen sehr privaten Rückblick, bei dem schnell deutlich wird, das Wandaogos Privatleben oft von einer Kamera begleitet wurde. Man filmt sich, und die Sucht dauert an, mal als „Nebenerscheinung“, mal als Zerreißprobe für die ganze Familie. Aus den Erinnerungsstücken entsteht ein lebhaftiges Zeugnis, ehrlich, schonungslos, wenig um Ästhetik bemüht, dafür liebevoll im Umgang mit einem gebrochenen Menschen, für den man im öffentlichen Jargon Kategorien wie „Drogenopfer“ verwendet.
Der profitable Pontifex
Dem Phänomen Papst hat sich Romuald Karmakar in seinem Film „Die Herde des Herrn“ gewidmet. Am Geburtsort des neuen Papstes in Marktl am Inn wird kurz nach der Transformation von Ratzinger zu Benedikt XVI fleißig mit dem Namen des Pontifex geworben, ob in Konditorei oder Teeladen. Zur Kommenzialisierung des Glaubens gehört auch stets seine (Selbst-)Inszenierung. Mit der Kamera am Petersplatz filmte Karmakar Millionen Katholiken aus aller Welt, die sich nach dem Tod Johannes Paul II nach Rom begeben haben. Kamarkars dargestellte Papst-Leichnam-Schau, die den zweiten Teil des Films bildet, schwankt zwischen Pop-Event und spirituellem Ereignis. Zwar gelingt es ihm mit Kameraschwenks die Bedeutung des Glaubens für das Individuum herauszustellen, doch halten sich seine Bilder allzu lange an der Menge fest, als wollte er das tranzendente Erlebnis im Film bannen. Wer als Zuschauer nicht mitbetet, erfährt bald irdische Redundanz.
Militär, Familie, Kirche – einst steckte darin das Rezept für ein gelungenes Leben. Heute, alles anders, vieles gleich, und immer noch kann der Dokumentarfilm eindimensionale Blickwinkel sprengen. Auch Louis und Auguste Lumière wussten dies und machten sich die Neugier der Leute zu nutze bis letztere ihren Papst hatten – das Kino.
"Viele Stoffe bei der Duisburger Filmwoche"
Die ersten drei Tage bei der Filmwoche
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