Die Rückkehr in die Provinz eröffnete gerade in der jüngeren französischen Literatur eine autofiktive Reflexion. Annie Ernaux, später auch Didier Eribon, verdichteten ihre Erinnerungen an die ländliche Heimat zu einer Art Brennglas, in der sie eine Entfremdung zum Arbeitermilieu poetisch beschrieben oder soziologisch analysierten.
Auch in Pierric Baillys „Jims Roman“ zieht es den Protagonisten Aymeric zurück in ein abgeschiedenes Gebirgsdorf in der östlichen Region Jura, dorthin, wo die Menschen vielleicht nicht mehr allzuviel erwartet. Diese französische Provinz bildet die Kulisse, auch das Grundrauschen der Beziehungen in dem im vergangenen Jahr erschienen Roman, den Bailly in einer Lesung in der Zentralbibliothek Essen vorstellte, veranstaltet vom Deutsch-Französischem Kulturzentrum Essen.
Keine simplen Kerle
Baillys Werk widmet sich oft der lebensweltlichen Realität von prekär Beschäftigten in der Provinz. Doch über das Jura will er auch in „Jims Roman“ eine gesellschaftliche Vielschichtigkeit beschreiben, erklärte er in Essen: „Ich möchte mich von den Klischees über das Landleben entfernen. Es gibt da nicht nur diese simplen Kerle.“
Das gelte auch für die Werktätigen wie Aymeric, der sein Psychologiestudium in der Stadt schmiss, um sich trotz seiner künstlerischen Veranlagung als Zeitarbeiter zu verdingen. Die Entfremdung, die er etwa als Kassierer erfährt, beschreibt Bailly eindringlich: „Den lieben langen Tag lang schenkst du ihnen dein falsches Lächeln und wünscht ihnen noch einen schönen Nachmittag, ob wohl dir ihr Leben am Arsch vorbeigeht, und außerdem weißt du, dass es an deinem Monatsgehalt nix ändern wird […], aber du fügst dich, gehört halt zum Job.“
Schauspiel statt Literatur
Die Zustände von prekärer Tätigkeit wolle er damit nicht anprangern, betonte Bailly: „Ich wollte keine Kritik äußern, sondern die Arbeit in der Fabrik oder an der Kasse realistisch darstellen.“ Genauso lebensnah erschien es ihm schließlich auch, dass Aymeric in diesem Supermarkt erstmals auf die fünfzehn Jahre ältere Florence trifft. Erst sieben Jahre später kommt es zum Wiedersehen und zur Amour fou. Denn Florence ist schwanger, und das Kind nimmt bald einen Mittelpunkt in Aymerics Leben ein – bis der leibliche Vater auftaucht und eine melodramatische Wendung der anderen folgt.
Dass diese theatralische Bezeichnung in Hinblick auf Baillys Roman nicht abwertend ist, legte er selbst nahe: „Ich mag die alten Hollywood-Melodramen wie die von Douglas Sirk, aber auch später die von Fassbinder oder Almodovar.“ Auch Alexandre Astrucs caméra stylo oder Francois Truffauts Antoine-Doinel-Zyklus kommen einem hier durchaus in den Sinn. Überhaupt entlehnt Bailly, der in Montpellier Filmwissenschaft studierte, vieles aus der Kinematographie, etwa den autobiographischen Ansatz. Er verwies in Essen nicht auf Knausgård, nicht auf Ernaux, die Granden der Autofiktion. Bailly nannte stattdessen den Schauspieltheoretiker Lee Strassberg, der eine bessere Darbietung durch eigenes Nachempfinden empfahl. „Es beruhigt mich, diese Verbindung zwischen dem Erlebten und dem Geschrieben zu sehen“, so Bailly. „Es ist eine Verstoffwechslung, eine Umwandlung dessen, was ich erlebt habe.“
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