Wir schreiben das Jahr 2035. Nachdem der dritte Weltkrieg zwischen den Geschlechtern ausgefochten wurde, sind die Frauen an der Macht. Das Zentrum ihrer gesamteuropäischen Monarchie liegt in Dortmund. Die letzten männlichen Überlebenden hingegen fristen ein karges Leben in Wien. Nur alle fünf Jahre haben sie die Chance, bei der großen Auktion ersteigert zu werden und ein Jahr lang in Dortmund in Luxus zu leben. Wer allerdings bei der Auktion leer ausgeht, muss als Sklave der Frauen in Dortmund dienen.
Dieses Szenario bildet die Grundidee des Exposés, mit dem sich die Salzburger Autorin Anna Herzig als Stadtschreiberin für die Stadt Dortmund beworben hat. Mit Erfolg – die Jury fand offenbar Gefallen daran, Dortmund als Zentrum eines weiblich regierten Europas zu sehen, und so wird Anna Herzig ab Mai die Nachfolge von Judith Kuckart antreten. Eine möblierte Wohnung und eine monatliche finanzielle Unterstützung sollen ihr ermöglichen, in und für Dortmund zu arbeiten. Als 1987 in Wien geborene Tochter eines Ägypters und einer Kanadierin dürfte sie sich im multikulturellen Ruhrgebiet schnell heimisch fühlen. Das Timing passt ihr ganz gut: „Ich habe soeben meinen Roman ‚Die feinsten Dinge‘ beendet und freue mich auf neue Projekte, u.a. die Zusammenarbeit mit Dortmunder (Kultur-) Institutionen während meiner Stadtschreiberei und der Arbeit an meinem neuen Roman ‚Die Auktion‘.“ Sie gesteht, dass sie diesem Roman-Projekt „mit ekstatischer Freude und ebenso grässlichen Ängsten“ entgegenblickt.
Exquisiter Luxus an Hellweg und Wall
Was bewegt eine österreichische Autorin, sich auf ein Stipendium in Dortmund zu bewerben? Gibt es möglicherweise bereits Verbindungen ins Revier? „Noch habe ich keinerlei Berührungsgebiete zum Ruhrgebiet“, erläutert Herzig, „aber mit meinen drei Männern, Walter, Herbert und Simon, den Protagonisten aus ‚Die Auktion‘ werde ich mich auf eine lange, bereichernde Reise durch Dortmund begeben. Und dabei freue ich mich, die Gesichter von Dortmund kennenzulernen.“ Eine solch offene Herangehensweise kann die Entwicklung des Romans in ungeahnte Richtungen treiben. „Ich bin ein großer Fan der urbanen Begegnungsromantik und lasse mich überraschen“, schmunzelt die Autorin. Man darf gespannt sein, ob ihr das reale Dortmund hinreichend Inspiration bietet für jenes in exquisitem Luxus schwelgende weibliche Machtzentrum ihres Romans.
Dass Anna Herzig im Laufe eines Stipendiums produktiv arbeiten kann, stellt die Autorin mit ihrem gerade fertig gestellten neuen Roman „Die feinsten Dinge“ unter Beweis, der maßgeblich während eines Aufenthaltsstipendiums in Villach Konturen annahm – auch wenn die Geschichte um einen gewaltsamen Tod im fiktiven Ort Krimmwing angesiedelt ist. Nach dem Literaturstipendium des Landes Salzburg und eben Villach in 2020 nun der Sprung von Österreich nach Deutschland. Mit welchen Erwartungen hat sich die Autorin für Dortmund beworben? „Natürlich – so wie bei jedem, der sich um eine Förderung, Projektzuschuss, Aufenthaltsstipendium und/oder einen Stadtschreiber bewirbt, sind die Hoffnungen groß, aber die Chancen, die man sich ausmalt eher gering“, schildert Herzig. Umso größer war die Freude, dass sich die Jury für sie entschieden hatte. „Zu hoffen, denk ich oft, ist das mindeste was ich tun kann. Das möcht ich mir behalten, in Zeiten wie jenen, die hinter uns liegen und Zeiten, die noch keine Gegenwart haben.“
Faces of Dortmund
Das Dortmunder Literaturstipendium zeichnet sich dadurch aus, dass es um mehr als nur das Verfassen eines Textes und gelegentliche Lesungen geht. „Dortmund war meine favorisierte Wahl, weil die Ausschreibungsbedingungen daran geknüpft waren, Dortmund urban transformativ mitgestalten zu dürfen/können und ich mich auch als bildende Künstlerin etablieren möchte“, erläutert Herzig, „einerseits möchte ich ‚Die Auktion‘ in Dortmund schreiben sowie intensiv recherchieren und an individuellen, kreativen Dortmunder Konzepten arbeiten.“ Sie will sich nicht zu stark beeinflussen lassen, aber selbstverständlich hat sie sich auch über Dortmunds erste Stadtschreiberin informiert: „Ich habe mir einen Überblick über Judith Kuckarts Schaffen verschafft und habe mir das Youtube Video zu ‚Hörde mon amour‘ angesehen, einen Beitrag, der mich sehr bereichert und inspiriert hat.“ Und was plant sie selbst? „Es sind einige Projekte für meine Zeit in Dortmund in Planung, ich möchte allerdings noch nichts dazu verraten.“
Dabei dürfte ihr auch helfen, dass sie mit ihrer eigenen Kreativagentur Erfahrungen gesammelt hat, Konzepte und Events für Klienten zu entwickeln. „Ich bin eine sehr extrovertierte Persönlichkeit und liebe es Menschen miteinander zu vernetzten und selbst Bereicherndes zu tun und freue mich sehr darauf, die vielen faces of Dortmund kennenzulernen.“ Bleibt zu hoffen, dass ihr diese Gesichter im Sommer mit einem Lächeln gegenübertreten – wenn sie schon nicht mit offenen Armen begrüßt werden dar.
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