„Mehr Demokratie wagen“, lautete die Vision, die Willy Brandt Ende 1969 in seiner Regierungserklärung formulierte. Auch 50 Jahre später beschäftigt Menschen in Deutschland die Demokratie. Viele träumen von mehr direkter Demokratie. Der Traum ist wunderbar: Dadurch, dass ihre Meinung gefragt ist, bekommt die Bevölkerung das Gefühl, Teil des demokratischen Prozesses zu sein. Legitimation und Akzeptanz der Politik wachsen und es prägt sich ein neues Bewusstsein aus. Das Problem der Politik(er)verdrossenheit erübrigt sich, denn auf die Stimme des Volkes wird gehört. Endlich kann man seiner Rolle als Souverän gerecht werden, denn plötzlich hat die eigene Stimme einen Wert. Man hat Macht. Wirklich traumhaft.
Doch mehr Macht hat nun auch der Nachbar. Seine Freunde aus der Facebook-Filterblase ebenfalls. Ganz sicher sind sie sich alle, dass sie bei der nächsten Abstimmung für die Wiedereinführung der D-Mark stimmen werden – und für die der Todesstrafe. Für mehr Abschiebungen und die Schließung der Grenzen sowieso. Mit Schießbefehl. Irgendwie hat sich der Traum zum Alptraum gewandelt.
Tatsächlich sind es häufig Populisten, die am lautesten mehr direkte Demokratie fordern. Ihrem Selbstverständnis zufolge vertreten nur sie das Volk. Und wer zu diesem Volk gehört, bestimmen demnach ebenfalls die Populisten. Alle anderen werden zu Bürgern zweiter Klasse.
Optimisten gehen davon aus, dass solche Positionen keine Mehrheiten finden würden. Allerdings hätten vor vier Jahren auch die wenigsten Menschen für möglich gehalten, dass Großbritannien heute nicht mehr Teil der EU ist, der Präsident der Vereinigten Staaten Donald Trump heißt und die AfD bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen jeweils zweitstärkste Kraft wird. Direktdemokratische Systeme sind sogar besonders anfällig für Stimmungsmache durch manipulative Demagogen: Die, die lautstark und in leichtverständlichen Worten gegen einfache Feindbilder hetzen, werden eher gehört, als diejenigen, die sich differenziert und abwägend äußern.
Wegen dieses Eindrucks der Verführbarkeit und Inkompetenz der Bürger lehnte Platon vor 2400 Jahren die direkte Demokratie, in der er lebte, ab. Doch wird in unserer heutigen repräsentativen Demokratie das Prinzip der Volkssouveränität durch das der Rechtsstaatlichkeit ergänzt und so ein gewisser Minderheitenschutz gewährleistet. Vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte, in der Diktaturen und Monarchien für viel Krieg und Leid verantwortlich waren, ist die Demokratie eine wichtige Errungenschaft. Der Wunsch nach mehr Mitbestimmung ist jedoch ein Indiz für das Misstrauen vor den Parlamenten. Die meisten, die für mehr direkte Demokratie plädieren, möchten die repräsentative Demokratie gar nicht gänzlich ersetzen, sondern ihm lediglich plebiszitäre Elemente hinzufügen: mehr Volksentscheide und Volksabstimmungen – und diese möglichst auch auf Bundesebene. Die beiden Demokratieformen müssen also nicht zwangsläufig im Gegensatz zueinander stehen.
Aber es bleiben Fragen offen: Worüber und wie oft sollte abgestimmt werden? Gibt es Bereiche, die tabu sind, Steuern zum Beispiel? Lassen sich komplexe Fragen überhaupt auf ein Ja-oder-nein komprimieren? Was ist mit Kompromissen? Und würden sich die Abstimmungsberechtigten sachlich mit Themen auseinandersetzen oder von emotionalisierten Zuspitzungen leiten lassen? Kann man den Bürgern vertrauen, oder wäre Misstrauen angebracht? Mehr direkte Demokratie wäre also ein Wagnis. Und es bleiben Bedenken hinsichtlich des Minderheitenschutzes. Die Verfechter von direkter Demokratie versuchen, zu beruhigen, verweisen darauf, dass Abstimmungen mit dem Grundgesetz konform sein müssen. Übrigens sind derzeit in zwei Fällen Volksabstimmungen auf Bundesebene vorgesehen. Einer davon: die Ablösung des Grundgesetzes durch eine neue Verfassung. Na dann: Gute Nacht!
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zum Thema auch unter: choices.de/thema und engels-kultur.de/thema
Aktiv im Thema
nrw.mehr-demokratie.de | Die NRW-Stelle des Vereins, der sich für die Ausweitung direktdemokratischer Elemente in unserer repräsentativen Demokratie einsetzt.
buergergesellschaft.de | Das Portal informiert darüber, welche Einflussmöglichkeiten jeder Einzelne neben der repräsentativen Wahl auf politische Entscheidungen hat.
omnibus.org | Ein echter Doppeldecker-Omnibus tourt für mehr direkte Demokratie durch Deutschland und Europa. Im Juni macht er für ein paar Tage in Bochum Stopp.
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