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Benjamin Höhne
Foto: Institut für Parlamentarismusforschung

„Demokratie bedeutet Andersdenkende zuzulassen“

09. April 2020

Politologe Benjamin Höhne über direkte Demokratie

trailer: Herr Höhne, was sind Instrumente der direkten Demokratie?

Benjamin Höhne: Im Prinzip geht es los bei der Volksinitiative und weiter über die Volksbefragung bis hin zum Volksentscheid. Dieses Instrumentarium bildet eine abgestufte Rangfolge der politischen Bedeutsamkeit, aber auch der Hürden für eine erfolgreiche Teilnahme. Es fängt damit an, dass das Volk sich zu bestimmten Themen äußern kann und die Initiative bestenfalls in einem Gesetz mündet, wenn sich dafür eine Mehrheit im Parlament findet. Bei einem Volksbegehren werden die Weichen zum Volksentscheid gestellt. Wird der Volksentscheid von einer bestimmten Anzahl an Wahlberechtigten unterstützt, wird er zu einem Gesetz, ohne dass das Parlament daran etwas ändern kann.

Welche haben wir hier in Deutschland?

Auf Bundesebene besteht so gut wie keine direkte Demokratie. Plebiszite sind nur in Ausnahmefällen vorgesehen. Zu diesen gehört neben einer neuen Verfassungsgebung auch die Neugliederung von Bundesländern. Das hat aber bisher nur einmal geklappt, nämlich beim Land Baden-Württemberg vor fast 70 Jahren. Eine Fusion von Berlin und Brandenburg war 1996 an den Brandenburgern gescheitert, obwohl beide Landesparlamente schon grünes Licht gegeben hatten. Vor diesem Hintergrund wurde in Mitteldeutschland trotz vieler Pro-Argumente gar nicht erst versucht, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen zusammenzuführen. Auf Landesebene gibt es schon mehr Möglichkeiten der Mitbestimmung über direkte Demokratie. Die Regelungen unterscheiden sich von Land zu Land. Einige gelten als partizipationsfreundlich. Andere setzen die Hürden relativ hoch. Es ist in der Regel so, dass Vorhaben ausgenommen sind, die die Steuern betreffen. Das bleibt den gewählten Volksvertretern und Vertreterinnen vorbehalten. Warum das so ist, lässt sich leicht erahnen. Es sei aber noch darauf hinzuweisen, dass Abgeordnete für ihre Entscheidungen zur Rechenschaft gezogen werden können, spätestens bei der nächsten Wahl. Bei der direkten Demokratie ist das Volk nur sich selbst gegenüber verantwortlich.

Fehlt es uns an einem Referendum wie in Frankreich?

Meines Erachtens sind alle Bundestagsparteien – mit Ausnahme der CDU und einer eher skeptischen FDP – dafür offen, dass es auf der Bundesebene mehr Mitbestimmung durch die Bevölkerung gibt. Dabei stellt sich die Frage, welche Materien man für welche Form der Volksgesetzgebung öffnen möchte. Während die CDU eher die Risiken betont, sehen die anderen Parteien stärker die Chancen. Chancen liegen u.a. in einer größeren unmittelbaren Mitgestaltung und mehr Partizipation, die die Politik bestenfalls wieder näher an die Bürgerinnen und Bürger bringt. Risiken wären z.B. verknappte Ja-Nein-Entscheidungen oder die Mobilisierung starker Interessengruppen im eigenen Interesse. Am Ende können Entscheidungen stehen, mit denen man bei genauerer Betrachtung gar nicht leben will. So wird in Punkto Euro-Einführung argumentiert. Hätte man sie in Deutschland auf Bundesebene zur Abstimmung gestellt, hätte es dafür angesichts der Liebe der Deutschen zu ihrer D-Mark wahrscheinlich keine Mehrheit gegeben.

Was halten Sie von dem Bestreben nach bundesweiten Volksentscheiden?

Viele Gesetzesmaterien sind so kompliziert und mit anderen Politikebenen – wie Europa oder der Landesebene – verwoben, dass eine Reduktion auf eine Ja-Nein-Frage kaum vorstellbar ist. Genau das macht ein Plebiszit. Trotz aller gebotenen Skepsis geht der Trend jedoch hin zu mehr direkter Demokratie. Insofern würde ich direkte Demokratie immer nur als eine maßvolle Möglichkeit zur Ergänzung zur repräsentativen Demokratie sehen, nicht aber um sie zu ersetzen. Interessant sind in diesem Zusammenhang die Bürgerkonvente. Diese können einer plebiszitären Abstimmung vorgeschaltet werden. Dann kann eine bestimmte Materie ausführlich debattiert werden. Idealerweise sind unterschiedliche Bevölkerungskreise in solch einem Konvent vertreten. Sie beraten sich und haben ausreichend viel Zeit, sich mit dem Thema sachorientiert auseinanderzusetzen und sich eine Meinung zu bilden. So kann ein Bürgerkonvent bestenfalls eine Vorlage für eine Ja-Entscheidung oder eine Nein-Entscheidung bieten, der jeweils eine dezidierte Begründung beiliegt.

Welche Bundesländer sind besonders bürgerfreundlich?

Nach dem Volksbegehrensbericht 2018 des Vereins „Mehr Demokratie“ wurden direktdemokratische Verfahren seit 1945 in Bayern und in den Jahren von 2009 bis 2018 am häufigsten von Hamburg, Berlin und Brandenburg genutzt. In beiden Zeiträumen initiierten Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz und Hessen die wenigsten direktdemokratischen Verfahren. Ein ähnliches Bild zeichnet sich auch bei den Volksbegehren und Volksentscheiden ab. Neben den schon erwähnten Bundesländern schnitt hier ebenso Baden-Württemberg schlecht ab. In Nordrhein-Westfalen gab es beispielsweise seit 1949 noch keinen Volksentscheid. Es gibt Initiativen, die Hürden für Volksbegehren und -entscheide abzubauen.

Gibt es Unterschiede in Ost und West?

Man könnte annehmen, dass die ostdeutschen Bundesländer aufgeschlossener gegenüber der direkten Demokratie sind, weil das Parteiensystem nicht so etabliert ist. Tatsächlich nehmen sie jedoch keine Vorreiterrolle ein. Aber auch einige westdeutsche Länder weisen hohe bürokratische Hürden bei direktdemokratischen Verfahren auf.

Was lässt sich durch direkte Demokratie erreichen?

Dazu gibt es keine einheitlichen Forschungsbefunde. Klar ist aber, dass die Leute mehr denn je politische Selbstwirksamkeit erfahren wollen. Wenn sie sich einbringen, dann soll das einen Effekt haben. Solch ein Bewusstsein fördert die Akzeptanz des politischen Gemeinwesens. Wenn sie stattdessen aber mitbekommen, dass Initiativen in der Ablage „P“ für Papierkorb landen oder die Parteien im Parlament etwas Anderes daraus machen, dann ist das Gift. Dies sehe ich gerade für Bürgerkonvente als Gefahr.Deshalb sollte Partizipation zum einen mit einem politischen Wirksamkeitsversprechen verbunden werden. Zum anderen ist ein aufgeklärtes Bürgerverständnis über die Möglichkeiten und Grenzen politischer Willensbildung wichtiger denn je.

Welche Gefahren bestehen?

Wir leben im Zeitalter des Populismus. Populistische Parteien treten für direkte Demokratie ein. Fast alle haben sich das auf die Fahne geschrieben. Dies passt zur populistischen Ideologie. Plebiszite sollen das vermeintlich politisch vernachlässigte Volk wieder mit der vermeintlich korrumpierten Politik zusammenführen. Letzten Endes verfolgen sie das Ziel, die Repäsentativorgane wie Parlamente und Parteien zu schwächen. Wie jüngst in Thüringen zu sehen war, wollen die Populistennichtnach den Regeln spielen, sondern der Demokratie schaden. Kritisch ist auch das mitunter ungute Zusammenspiel von direkter Demokratie und mobilisierungsstarken Akteuren. Das können populistische Parteien sein, aber nicht nur. Wenn z.B. finanzstarke Verbände ein paar Millionen in eine Kampagne mit Plakaten, TV-Spots, Social-Media uvm. investieren, dann kann man sich vorstellen, wie Meinung gemacht wird, wie man so sagt, und wozu das letztlich führt.

Vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Mitte-Studie im vergangenen Jahr, was glauben Sie, wäre wichtig, damit sich mehr Menschen in der Bundesrepublik repräsentiert fühlen?

Zunächst: Nicht jeder ist unzufrieden, wie es läuft. Ganz im Gegenteil: Die grundsätzliche Unterstützung für das politische Gemeinwesen ist hoch. Für die Unzufriedenen und Ansprechbaren gäbe es einen ganzen Strauß an Maßnahmen. Erstens kann man bei den Parteien ansetzen, Parteiarbeit attraktiver machen. Schließlich sind Parteien tragende Säulen unserer repräsentativen Demokratie. Sie treffen die wesentlichen politischen Entscheidungen. Familienverträglichere Sitzungszeiten sind ein Aspekt, die Mitgliedschaftsgebühr gehört abgeschafft und generell muss mehr innerparteiliche Demokratie, mehr Mitwirkung gewagt werden. Alle Parteien haben Probleme, bestimmte Personen zu gewinnen, insbesondere Junge, Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund. Parteien müssen sich öffnen, wollen sie ihre Zukunft nicht aufs Spiel setzen. Zweitens kann maßvoll und mit intelligenter Einbettung in repräsentative Strukturen direkte Demokratie ausgebaut werden. Dazu gehören nachträgliche Referenden. Wurde ein Gesetz beschlossen, kann es im Nachgang vom Volk angenommen oder wieder verworfen werden. In diese Richtung bewegt sich einiges in Sachsen. Dort hatte Ministerpräsident Michael Kretschmer den Volkseinwand in das aktuelle Wahlprogramm der CDU Sachsen eingebracht. Drittens ist es wichtig, die Sichtbarkeit bestimmter Gruppen im Parlament zu verbessern. Eine größere Vielfalt bietet die Chance, dass sich mehr Menschen mit den Abgeordneten identifizieren können.

Was meinen Sie mit „sichtbarer werden“?

Frauenquoten sind auf diesem Weg ein wirksames Instrument, aber längst nicht das einzige. Es geht nicht nur darum, dass mehr Frauen ins Parlament kommen. Damit löst man nicht die politischen Sichtbarkeitsansprüche anderer Bevölkerungsgruppen. Außerdem setzen sie oben an. Das Problem beginnt aber an der Basis. In den Parteien sollte die Zusammensetzung vielfältiger werden. So kann Erneuerung von unten geschehen. Wenn die Parteien nicht in die Pötte kommen, dann müssen sie damit rechnen, dass neuartige Bewegungsparteien wie in unseren Nachbarländern aufkommen. Sie machen vieles anders, setzen auf mehr Plebiszite und digitale Willensbildung.

Was kann jeder Einzelne tun?

Die Institutionen der repräsentativen Demokratie verlieren gesellschaftlichen Rückhalt. Umso wichtiger ist es, dass sich die Bürgerinnen und Bürger wieder mehr als politische Aktivposten begreifen: sich fragen, was man zur Ausgestaltung des Gemeinwesens beitragen kann, sich auch als Teil einer pluralen Gesellschaft zu verstehen. Demokratie bedeutet Mitgestalten und Andersdenkende zuzulassen. Dieses Bewusstsein geht meines Erachtens mehr und mehr verloren. Wenn die Leute nicht mehr miteinander reden, sich zuhören, verschärfen sich Gegensätze, die schlimmstenfalls zu gewaltsamen Auseinandersetzungen führen. Wir stecken bereits mittendrin in einer Negativspirale – wie die jüngsten rechtsterroristischen Attacken in Halle und Hanau gezeigt haben.


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nrw.mehr-demokratie.de | Die NRW-Stelle des Vereins, der sich für die Ausweitung direktdemokratischer Elemente in unserer repräsentativen Demokratie einsetzt.
buergergesellschaft.de | Das Portal informiert darüber, welche Einflussmöglichkeiten jeder Einzelne neben der repräsentativen Wahl auf politische Entscheidungen hat.
omnibus.org | Ein echter Doppeldecker-Omnibus tourt für mehr direkte Demokratie durch Deutschland und Europa. Im Juni macht er für ein paar Tage in Bochum Stopp.

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Interview: Nina Hensch

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