Als das Prinzenpaar samt Hofstaat einmarschiert, hält es in der ausverkauften Historischen Stadt- halle niemanden mehr auf den Sitzen. Prinz Michael I. verschenkt Luftküsse an das gemeine Volk, es regnet Tulpen auf die Närrinnen. Sein Zug ist militärisch uniformiert, bis an die Zähne bewaffnet, aus den Gewehrläufen ragen Plastikblumen. Flötisten, Glockenspieler, Holz- und Blechbläser, sie ziehen in die Karnevalsschlacht, die Trommeln drohen.näher. Nicole ist blond, gefühlte zwei Meter groß, ihr knappes Nichts gewährt tiefe Einblicke. Der Club ist plüschig, klebrig-süß. „Diese kleinen Bordelle haben einen leicht asozialen, geschmacklosen Charme. Eine Kombination aus Glitzerkitsch und minderer Qualität.“ Ingo schmunzelt. In dieser Nacht sind wir zwei Verschwörer, uns verbindet die Suche nach Leben. Ingo ist schlank, attraktiv, vielleicht Anfang vierzig. Studiert hat er, arbeitet aber lieber mit seinen Händen. Wir müssen uns etwas gedulden. Die zwei Sofas sind herzförmig geschwungen, dahinter lockt ein kleines Separee, Vorhang bei Bedarf. Sein erstes Mal? „Vor drei Jahren.“ Ein guter Freund überredet ihn auf ein Bier in seinem Lieblingsbordell. „Für mich war das ein widerliches Milieu, wo man Angst haben muss, dass man von einem Zuhälter die Fresse eingeschlagen kriegt. Und die Mädels gezwungen werden, Sex zu verkaufen.“ Am Tresen steht damals dann diese schöne Frau, in Strümpfen und mit Korsage. „Sex mit einer Unbekannten. Wir haben geküsst, es war sehr zärtlich. Ein großer Rausch!“ Moment mal, werfe ich ein, vor allem war es aber ein großes Geschäft. Ingo überlegt. „Eine gute Freundin hat mir mal gesagt: Männer müssen für Sex bezahlen, immer! Bei einer Kneipenbekanntschaft mit Drinks und Interesse. In Beziehungen heißen die Währungen dann Nähe, Sicherheit, Aufmerksamkeit und handwerkliches Geschick.“
50 EURO FÜR EINE HALBE STUNDE: VERKEHR, FRANZÖSISCH BEIDSEITIG, KÜSSEN EXTRA
„Mich nervt diese Perspektive, dass Prostitution ihrem Wesen nach schmutzig und gewalttätig ist. Das stimmt so nicht. Auch, wenn ich als Freier natürlich selbst zerrissen bin und manchmal denke: Mädchen, mach doch was Vernünftiges, anstatt für Geld mit mir zu vögeln.“ In der Tat ist die Debatte, die gesellschaftlich kaum geführt wird, oftmals ge- prägt von Stereotypen, von gefühlten und gewollten Wahrheiten; sie ist moralinsauer und voyeuristisch. Gekonnt lotst Leyla uns zur Bar. Sie hat langes schwarzes Haar, feine Gesichtszüge, insgesamt eher wenig an. „Champagner?!“ Die Deutsch-Tunesierin wirft ein umwerfendes Lächeln hinterher. „Die Flasche kostet nur 150 Euro.“ Mein spontanes Angebot auf Freibier lässt die Damen ihre gepuderten Nasen rümpfen. Gut, wir lassen eine kleine Flasche Sekt springen, was sind schon lumpige 50 Euro. Auch teilnehmende Beobachtung hat ihren Preis. „Ich hatte fast nur schöne Erlebnisse mit Huren“, sagt Ingo. „Um den Zauber des Augenblicks mit einer Dame erleben zu können, muss der Freier allerdings bereit sein, sie zu beschenken. Mit Offenheit, Respekt, Zuneigung. Geld ist nur die Legitimation, dass es einen Anfang geben darf.“ Kulturwissenschaftler würden Ingo einen romantischen Freier nennen, vielleicht auch einen hedonistischen. Doch auch sein Über-Ich verhandelt die eigene Rolle: Wohltäter oder doch Täter? „Bis heute habe ich keinen Schmerz gesehen bei den Damen. Trotzdem suche ich immer nach dem Manko: Warum arbeitet eine Frau als Hure? Vielleicht ist es ganz profan, vielleicht geht es nur ums Geld.“ Leyla erinnert passend an das Kerngeschäft des Hauses. „50 Euro für eine halbe Stunde, Verkehr, französisch beidseitig, einmal entspannen. Küssen kostet extra.“ Ingo verschwindet mit ihr „aufs Zimmer“, ich plaudere mit Nicole. Frei- willig sei sie hier, seit fast fünf Jahren schon. Wenn die Chemie nicht stimmt, könne sie Gäste ablehnen, ein Job eben. „Ja, alle Mädchen aus dem Milieu kennen Fälle von Zwang und Gewalt.“ Auch die Polizei schaue immer mal wieder auf einen Kaffee vorbei, um zu sehen, ob alles OK ist. Um kurz nach Mitternacht sind die beiden wieder zurück. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!“ Nicole fällt Leyla um den Hals. „Hey Ingo, du hast sie ins neue Lebensjahr gevögelt!“ – „Es gibt noch eine Überraschung!“ Leylas Augen lachen, sie steht mit einem Tablett vor uns. „Damit habt ihr nicht gerechnet, Jungs, als ihr heute aufgewacht seid: selbstgebackener Apfelkuchen im Puff – mit Sahne!“
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