Mit dem Auftakt der Reihe ÜBER LEBEN! am 6.9. im Medienzentrum des Bistums Essen hat das Literaturbüro Ruhr angesichts der krisenhaften Weltlage ein literarisches Ausrufezeichen gesetzt und trotz allem einen Hoffnungsschimmer erstrahlen lassen: „Eigentlich müssten wir tanzen“ lautet der Titel des 2015 bei Suhrkamp erschienenen Romans von Heinz Helle, dessen Präsentation im Gespräch mit dem ZEIT-Literaturkritiker Dr. Hubert Winkels das Publikum mit analytischer Nüchternheit und sprachlicher Präzision in seinen Bann schlug. Die einleitende Feststellung von Literaturbüro-Leiter Gerd Herholz, der Roman könne „fast nicht besser passen“, um den Beginn der Veranstaltungsreihe zu markieren, wurde durch die spannende Diskussion und Lesung mehr als bestätigt.

„Sind wir in der unmittelbaren Nachkriegszeit?“, fragt Hubert Winkels eingangs in den Raum – und spielt damit nicht zuletzt auf die „Schlachtfelder in Syrien“ an. Von Heinz Helle möchte er wissen, ob die „Apokalypse“ für ihn sogar eine Art „Lebensgefühl“ sei. Mit seiner Antwort legt der Autor den Finger tief in die Wunde des Zeitgeists, der für viele Menschen einen „Grundzweifel“, eine „basale Angst“ existenziell werden lässt, indem dieser Zustand zum einen durch die angespannte weltpolitische Situation, zum anderen durch eine immer größere Reiz- und Informationsflut im digitalen Zeitalter zu einer „allgemeinen Überforderung“ führe. Die Inspiration zu Helles postapokalyptischem Roman, der in einer völlig zerstörten Welt nach einem nicht näher geschilderten Inferno spielt, geht eigentlich auf die erste Griechenland-Krise 2010 zurück – eine Zeit, in die sich der Autor angesichts der gewachsenen globalen Probleme inzwischen beinahe zurücksehnt… Über die Ursachen des globalen Kollapses erfährt der Leser im Roman jedoch nichts; Helle wollte den Eindruck eines „Katastrophenromans“ vermeiden und – in Anspielung auf die gleichnamige Romanverfilmung von 2007 – kein „I Am Legend-Ding“ abliefern.
„Eigentlich müssten wir tanzen“ erzählt von fünf Überlebenden, die sich nach auf einer Hütte in den Alpen durchfeierten Tagen und Nächten plötzlich mit dem postapokalyptischen Szenario einer erloschenen Zivilisation konfrontiert sehen. Das alltägliche „Atemlos“, das zuvor als Autoradio-Refrain erklungen war, ist plötzlich einer – ironischerweise friedlich konnotierten – Erschöpfung gewichen. Durch das Setting ausgebrannter Autos, verkohlter Yachten und geplünderter Supermärkte bewegen sich die fünf Männer an wenigen anderen ums Überleben kämpfenden Existenzen vorbei Richtung Untergang. Hierbei wird retrospektiv das frühere Leben der Protagonisten beschrieben und (in Auflösung begriffene) Freundschaft „hinterrücks“, so Hubert Winkels, zum Thema. Hierbei zeige sich zum einen, wie dünn der „Firnis der Zivilisation“ sei – zum anderen wird rückblickend die groteske Verschwendung von Lebenszeit deutlich, die eben jene aus den Fugen geratene zivilisatorische Ordnung samt ihrer kleinlichen Konflikte mit sich gebracht hatte.
Bevor sich die sukzessiv schrumpfende Gruppe schließlich auf den Ich-Erzähler reduziert, kommt es zum letzten Aufbegehren gegen den Zusammenbruch sämtlicher Werte und vermeintlicher Sinnzuweisungen, die mit dem Weltkollaps einhergehen. Auf einer verschneiten Ebene versuchen die Überlebenden, der weißen Folie ein möglichst bedeutungsvolles Symbol einzugravieren; „ein letzter Tanz – die eine Botschaft, die wir hinterlassen“, „der Nachwelt oder dem Nichts...“ Die den Roman latent prägende nihilistische spirituelle Leere manifestiert sich auch in der Suche nach dem ultimativen Zeichen, das es in einem finalen rebellischen Akt zu setzen gilt: „Wir stampfen dem Planeten diese letzten Reste Bedeutung ein.“ Während sämtliche (pseudo-)religiösen Symbolträger wie Kreuz und Halbmond, aber auch der erhobene Facebook-Daumen ihre Strahlkraft eingebüßt haben und als Motiv verworfen werden, wird am Ende der Versuch unternommen, ein „gewaltiges Peace-Zeichen“ in die schmelzende Schneefläche zu trampeln – das schließlich jedoch unvollendet bleibt.
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