Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
11 12 13 14 15 16 17
18 19 20 21 22 23 24

12.577 Beiträge zu
3.806 Filmen im Forum

„Trübes Wasser“ von Elena Wiener
Foto: Presse

Traurig, aber wahr

12. Mai 2021

67. Oberhausener Kurzfilmtage überzeugen im Online-Programm – Festival 05/21

Schon Anfang des Jahres zeichnete sich ab: Das wird wieder nichts. Mit steigenden Inzidenzen und einem andauernden Kultur- und somit Kinolockdown trafen die Oberhausener Kurzfilmtage Ende März 2021 die Entscheidung, das Programm erneut ins Netz zu verschieben und das Festival als reine Online-Ausgabe zu feiern. Auch für Fans des anspruchsvollen Kurzfilms hieß es statt runter von der Couch: Rollos runter und im Widerschein des Monitors stundenlang alleine Filme schauen.

Das einige der 400 gezeigten Filme nur an bestimmten Tagen und zu festgelegten Uhrzeiten zu sehen waren, verlieh den heimischen Streamingsessions dann zumindest einen leichten Hauch von Eventcharakter. Auch die Möglichkeit, sich abseits der Video-on-Demand Plattform im Festival Space virtuell zu treffen und per Maus den eigenen Avatar eine Runde drehen zu lassen, machte den Austausch mit Gleichgesinnten zwischen den Programmblöcken immerhin möglich. Auch die Preisverleihung am 10. Mai – eröffnet von einem ernst und gedämpft gestimmten Festivalleiter Lars Henrik Gass vor schwarzem Hintergrund – fand online statt. Die dabei unablässig den Bildschirm flutenden, euphorischen Emojis konnten aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Auswahl der Jurys den Zeitgeist spiegelte.

Details bei wiederholtem Sehen

Insgesamt wurden 27 Preise in acht Wettbewerben mit Preisgeldern im Wert von 52.000 Euro vergeben. Der Hauptpreis der internationalen Jury ging an den Künstler Su Zhong für „8‘28“. Seine ebensolange Plansequenz fräst sich durch die Eingeweide des Kapitalismus, Blut und Körperteile halten Getriebe und Produktion am Laufen. Östliche und westliche Mythologien mischen sich. Gottheiten marschieren auf einer gemeinsamen Parade, in einem einstürzenden Theater tanzen US-amerikanische Superhelden von Batman bis Deadpool. Im Hintergrund ziehen sich die typischen Bauwerke der Metropolen zu einer Skyline zusammen. Vor den Toren der Städte feiern bis auf das Muskelfleisch entblößte Kreaturen eine Orgie voller Lust und Gewalt. Zhong reißt damit einer Welt die Kleider vom Leib, die schon vor der Pandemie bis ins Mark verdorben war, aber in ihrer Fülle eindrucksvoll animiert ist und deren Details sich erst bei wiederholtem Sehen offenbaren.


„8‘28“ von Su Zhong, Foto: Presse

Mit dem Großen Preis der Stadt Oberhausen wurde mit „Toumei na watashi“ (Transparent, I am) ein leiseres, aber visuell und narrativ ebenso vielschichtiges Werk ausgezeichnet. Die japanische Künstlerin Yuri Muraoka verwebt darin Found Footage, Animationen und Standbilder zu einem Kaleidoskop ihrer eigenen Schizophrenie-Erkrankung und schildert, was diese für sie und ihre Familie bedeutet. Corona ist durch die als Projektionsfläche genutzte Maske ein Teil der Szenerie. Während bei Muraoka das Leben zumindest für einen Moment triumphiert, befindet sich in „A terra de não retorno“ (The Earth of no Return) die Hölle direkt auf Erden. Der von der Jury des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen ausgewählte Beitrag von Patrick Mendes erinnert in Tonalität und Ästhetik an Pier Paolo Pasolini. In einer nicht definierten Zeit klatscht ein Toter vom Himmel kopfüber in den Fluss. Danach praktiziert eine archaische Gesellschaft Rituale, bei der neue Augen im Feuer geschmiedet werden. Am Ende stehen alle still und andächtig in karger Landschaft im Kreis und eine ins Bild berserkernde Maria Callas als Medea scheint unausweichlich. Da durchbricht hämmernder Metal die Stille und der Abspann folgt.

Proletarisches Vieh

Im Deutschen Wettbewerb setzte sich mit „Proll!“ von Adrian Figueroa eine realistische Milieustudie über prekär Beschäftigte durch. Der Lieferfahrer verpasst den Fahrstuhl und die Hochzeit seines Bruders. Eine Kartonfabrik schließt und ein Mitarbeiter wird nach 15 Jahren entlassen, ohne einen Tag krank gewesen zu sein. Eine Klick-Arbeiterin arbeitet, datet und schläft im Homeoffice. Die „Working Poor“ sind einsam, aber jede*r für sich. Allein das zu Beginn angefahrene Schaf steht vielleicht für das proletarische Vieh, das schon Sergej Eisenstein in „Streik“ parallel zu Arbeitermassen montierte.


„Toumei na watashi“ (Transparent, I am) von Yuri Muraoka, Foto: Presse

Im NRW-Wettbewerb gingen alle Preise an Filme, die von Krankheiten handeln. Die WDR-Westart-Publikumsjury prämierte den schwarzhumorigen Animationsfilm „Bis zum letzten Tropfen“, mit dem Regisseur Simon Schnellmann seine eigene Leukämie-Erkrankung verarbeitet. Als sein Stichmännchen-Ego am Ende das Krankenhaus geheilt verlässt, prangt auf der Tür die zweifelhaften Abschiedsloskel „Bis zum nächsten Mal!“. Der mit dem NRW-Föderpreis bedachte Animationsfilm „Trübes Wasser“ von Elena Wiener thematisiert eine Autoimmunerkrankung und Christian Becker setzt fragmentarische Selbstzeugnisse aus Schmalfilmaufnahmen und Tagebucheinträgen seines Onkels zu dem Mosaik der Krebserkrankung seiner Tante Lydia zusammen (NRW-Preis für „Lydia“).
 
Die meisten prämierten Beiträge scheinen inhaltlich und ästhetisch von der Situation und Lage, in der wir alle uns seit mehr als einem Jahr befinden, geprägt. Eine gewisse Schwermut, persönliche Schicksalsschläge oder gesellschaftliche Verwerfungen bis hin zur ultimativen Grenzüberschreitung des Todes weben sich wie ein roter Faden durch die Jury-Entscheidungen. Das macht die diesjährige Festivaledition nicht schlechter als andere, wohl aber zum Zeugnis eines emotionalen Momentums. Filmisch sind die düsteren Themen aber so abwechslungsreich und vielschichtig verarbeitet, dass Vorfreude auf die Kurzfilmtage 2022 angemessen ist. Die 68. Ausgabe soll wieder hybrid und live vor Ort stattfinden. Das Programm könnte dann vor einem Geist des Aufbruchs und der wiedererlangen Lebensfreude nur so strotzen.

Eine vollständige Liste aller Preisträger*innen finden Sie hier.

Maxi Braun

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.

Neue Kinofilme

Gladiator II

Lesen Sie dazu auch:

Der Kurzfilm im Rampenlicht
Die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen 2024 – Vorspann 05/24

Glück im Unglück
NRW-Wettbewerb bei den 67. Kurzfilmtagen Oberhausen – Festival 05/21

Andere, kurze Welten
Natürlich, virtuell: Die 67. Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen – Festival 05/21

Unbequem bleiben
NRW-Wettbewerb bei den 64. Oberhausener Kurzfilmtagen 2018 – Festival 05/18

Un-Ort Dusche und der Rapper von Köpenick
Verleihung der 20. MuVi-Award bei den 64. Kurzfilmtagen Oberhausen – Festival 05/18

Der andere Film
64. Internationale Kurzfilmtage Oberhausen – Festival 05/18

Großes Kino mit kleinen Filmen
Der Kurzfilm als kreativer Motor für die Zukunft des Kinos – Vorspann 05/17

Kein Geheimtipp mehr
NRW-Wettbewerb bei den 62. Kurzfilmtagen Oberhausen – Festival 05/16

Keine Angst vor harter Kost
Preisträger der 62. Kurzfilmtage Oberhausen – Festival 05/16

Kritik mit Wumms
18. MuVi-Award bei den Kurzfilmtagen Oberhausen am 7.5. – Festival 05/16

„Auf das Risiko muss man sich einlassen“
Lars Henrik Gass, Festivalleiter der Kurzfilmtage Oberhausen, im Interview – Festival 05/16

Vielfalt, grenzenlos
62. Oberhausener Kurzfilmtage vom 5. bis 10. Mai – Festival 04/16

Festival.

Hier erscheint die Aufforderung!