Das Erreichen der Volljährigkeit ist im Leben der meisten Menschen eine Zäsur. Plötzlich dürfen wir legal saufen, rauchen, Nächte durchmachen und müssen niemandem mehr Rechenschaft ablegen. Wenn man aber wie die MuVi-Sektion von Beginn an eher antiautoritär unter der Obhut der Oberhausener Kurzfilmtage aufwächst, ist ein 18. Geburtstag auch keine große Sache mehr.
Jessica Manstetten und Hans-Christian Grimm, Moderatoren des Abends und Kuratoren der zwölf um den MuVi-Preis konkurrierenden Clips, verzichteten daher auch auf Pathos bei Screening und Preisverleihung. Auch die meisten der anwesenden Regisseure waren mental schon auf die Party danach eingestellt.
Zum Beispiel Regisseur Jan Bonny, dessen Video zu dem Olli Schulz-Song „Boogieman“ den mit 500 Euro dotierten Publikumspreis erhielt. Manstettens Frage, ob er etwas zur Entstehungsgeschichte seines Clips sagen könne, beantwortete er launisch mit „Neee“, gab aber doch noch zu, er habe einfach nur sehen wollen, wie Schauspieler Matthias Brandt tanzt.
Der Clip beginnt mit der typischen Szenerie einer Betriebsfeier. Es wird getrunken, machomäßig gepöbelt, beleidigt und irgendwann hat Lorenz (gespielt von Brandt) die Schnauze voll, wirft die Mäntel hin und geht. Erst hier setzt Schulz' Song ein, führt den Protagonisten in eine Karaokebar, wo er sein Herz auf der Hand und die Zeit im Gesicht trägt. Der melanscholische und gleichzeitig befreite Habitus, mit dem Brandt in der Nacht versumpft, passt perfekt zu Text und Sound von Schulz' Song.
Die meisten Videos schlugen visuell und musikalisch aber deutlich lautere und sozialkritische Töne an, wie Mario Pfeifers Clip zu „Blacktivist“ von den Flatbush Zombies. Stereotype Rap-Video-Ästhetik vermengt Pfeifer mit Found Footage-Material von polizeilichen Übergriffen gegen People of Colour und lässt die Collage mit Obama als IS-Geisel kulminieren, bevor sich die Terroristen selbst sanft enthaupten und in ein kosmisches Nirwana entschwinden.
Mit Gesellschaftskritik geizt auch „If I Were a Sneaker“ von Die Goldenen Zitonen nicht. Das unter der Regie von Katharina Duve, Ted Gaier, Schorsch Kamerun und Timo Schierhorn entstandene Video orientiert sich zwar an Imagefilmen und dem kleinsten gemeinsamen Nenner kommerzieller Stock Footages, substrahiert aber alle Menschen, die dem Klischee nach äußerlich als „nordisch“ durchgehen. Alle Positionen im Clip werden von Menschen besetzt, die – rein oberflächlich betrachtet – ihre Wurzeln vermutlich nicht in Deutschland haben, wodurch der Clip einen Gegenentwurf zu klassischen Bildwelten von Migration entwirft.
Die Jury, die sich aus den Musikern und Produzenten Frank Dommert und Michael Fakesch sowie Hannah Pilarczyk, Filmredakteurin für Spiegel Online, zusammensetze, vergab dafür eine von zwei lobenden Erwähnungen. Das zweite Lob ging an „Perry“ zur Musik von Aloa Input. Regisseurin Susanne Steinmaßl katapultiert uns damit durch die grelle Welt der virtuellen Zeichen, Symbole und Codes, mit denen sie „das Internet“ als solches abzubilden vermag und aus dem es uns nach einem kaleidoskopartigen Trip wieder heraussaugt.
Der Hinweis von Jessica Mantstetten, dass der Clip nicht für Epileptiker geeignet sei, wäre auch als Warnung vor „All Day“ sinnvoll gewesen. Zu den wummernden Beats des DJ-Duos Drunken Masters in Kollaboration mit Tropkillaz, clickt sich ein kleines Mädchen in einen Rausch aus fluoriszierenden Katzenfratzen und Egoshootern.
Die Sogkraft des World Wide Web, der Wunsch, sich auch physisch in den virtuellen Weiten zu verlieren und unseren analogen Körpern zu entfliehen, reißt auch die BetrachterInnen mit. Das liegt auch an der 7-jährigen Protagonistin, die laut Regisseur Andreas Hofstetter zuvor noch nie an einem PC gesessen habe. Das Ergebnis kam nicht nur beim Publikum, das schon vor dem unerwarteten Epilog des Clips klatschte, gut an. Die Jury vergab dafür den ersten, mit 2.000 Euro dotierten Preis und lobte in der Begründung besonders die Genauigkeit, mit der in „All Day“ die Impulse der Musik in Bilder umgesetzt wurden.
Für das mit dem zweiten Preis und 1.000 Euro ausgezeichnete Video von Guillaume Cailleau für das Stück „Organ Movement“ der Noise-Band Elmer Kussiac brachte das Publikum weniger Begeisterung auf. Während die Jury begründete „das Spiel der Band mit den Übergängen vom Analogen zum Digitalen (...) findet mit seiner Manipulation von Filmmaterial verblüffende Parallelen zwischen akustischer und visueller Stofflichkeit“, goutierte fast der gesamte Publikumskörper den Clip mit Gähnen und räuspernder Langeweile. Nach mehr als zehnminütiger Abstraktion, bei der Andeutungen konkreter Figuren schon zu den Höhepunkten zählten, erklang ein deutliches „Buh!“.
Positiver kam die Dada-Fraktion von Nova Huta, STRAND oder Poplar Bluff an. Die deutsch-polnische Künstlerin und Autorenfilmerin Mariola Brillowska ließ ihr vom Wahnsinn durchkomponiertes Video zu Nova Hutas „Ego Alter“ für sich sprechen und bewarb lieber ihren Debütroman „Hausverbot“, der bei „irgendeinem fetten Verlag“ erschienen sei, was aber auch egal wäre, solange wir es alle kaufen würden.
„Materialität“ und „Anhäufen“ wurde auch wiederholt in „Lichtwelle“ von Xenia Lesniewski und Julia Rublow, zusammen STRAND, gehaucht. Wer den ekligen, einminütigen Auftakt überstand, konnte absurde Bilder zum elektronischen Flow mit Konsolenbeats genießen. Jo Zahns Video, eine 20-minütige Spielplatzpause im Zeitraffer abgespielt, entstand schon vor dem Song „small vertigos“ und fesselte die Zuschauer zumindest durch die Suche nach Mustern in der in einer einzigen Einstellung festgehaltenen Szenerie.
Bestenfalls bizarr wirkte die Performance zu „suckmyconfetizzle“von Elektra Stoffregen. Ein Latex-Zimmermädchen windet sich erotisch um einen Staubsauger in Konfetti-Bergen und zitiert Lyrics aus frauenfeindlichen Rap- und HipHop-Songs. Raffiniert war allenfalls die Aufmachung, die auch einer Figur aus „American Horror Story“ gut zu Gesicht gestanden hätte.
Die US-Serie könnte auch stilistischen Einfluss auf das „Arbeitsehepaar“ Katharina Langer und Arno Brechmann ausgeübt haben. Die Industriedesignerin und der Musiker aus Essen wechseln bei jedem Video Musikrichtung und Ästhetik. In „Ghost Track“ finden die kratzigen, teils dissonanten Sounds ihre visuelle Entsprechung in beunruhigenden Räumen, die an das „Murder House“ oder „Asylum“ erinnern und aus denen sich gesichtslose Figuren wie aus einem puristischen „Pans Labyrinth“ auf den Betrachter zu bewegen.
Den Schwerpunkt gekonnt auf die filmsprachliche Ästhetik legte auch Lennart Bredes Clip zu „Space Cowboy“ von DUZT. Den elfjährigen Protagonisten habe er von der Straße weggecastet wegen seines Looks. Das Video inszeniert einen pausbäckigen Rotschopf an der Schwelle zur Pubertät. Mit cooler Attitüde in Slow Motion nimmt er eine leerstehende Fabrik ein und lebt scheinbar unbeobachtet den Traum von Anarchie. Selten hat man ein Kind so lässig paffen sehen.
Die abschließende Preisverleihung ging in der Flut ungeduldig davon eilender ZuschauerInnen leider etwas unter. Der Jury merkte man die Freude am verrichteten Auftrag aber ebenso an wie Andreas Hofstetter die Euphorie über den ersten Preis. Ein wenig mehr Glanz und Gloria hätte dem MuVi-Preis vielleicht zum 18. Geburtstag gut getan, die Clipauswahl hätte es auf jeden Fall verdient.
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