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Long Distance Calling: David Jordan, Jan Hoffmann, Janosch Rathmer, Florian Füntmann (v.l.)
Foto: Andre Stephan

„Wir sind nicht lebensverneinend, im Gegenteil“

30. August 2022

Long Distance Calling über ihr neues Album „Eraser“ – Interview 09/22

Am 26. August ist das achte Album der Münsteraner Post-Rocker erschienen. Neun gefährdete Tierarten erhalten hier ihren eigenen Soundtrack. Vor ihrem Konzert bei Bochum Total erzählten Schlagzeuger Janosch Rathmer und Bassist Jan Hoffmann auch vom drohenden Musiksterben. Die Lösung für Letzteres: Geht öfter auf Konzerte!

trailer: Janosch und Jan, jeder Song auf eurem neuen Album ist einer bedrohten Tierart gewidmet. Wie kam es zu der Idee?

Janosch Rathmer (JR): Ich saß eines Abends vorm Fernseher und habe mir eine sehr gut gemachte Dokumentation über den Grönlandhai gesehen, der 500 Jahre alt werden kann! Ein Titel auf der Platte ist dann eben „500 Years“. Wir haben in der Zeit auch mit Greenpeace Kontakt gehabt. Mit Jan haben wir dann etwas rumgesponnen und dann ist relativ schnell klargeworden, dass wir Bock haben, daraus wieder ein Konzeptalbum zu machen und jeden Song einer aussterbenden Tierart zu widmen und somit für jedes Tier einen eigenen Soundtrack zu schreiben. Die Tierliste stand also vor der Musik.

Das wird aus den Titeln nicht immer so ganz ersichtlich. Wird denn irgendwo offiziell aufgelöst, welcher Song für welches Tier steht oder bleibt das ein Rätsel?

JR: Man muss einfach bei manchen Titeln ein bisschen um die Ecke denken, wie bei „500 Years“. „Blood Honey“ ist, wenn man an Tiere denkt, dann auch nicht so weit hergeholt. Bei den beiden Songs, die ein Video haben, ist es recht offensichtlich, denke ich.

Jan Hoffmann (JH): Und im Booklet ist es aufgeschlüsselt.

Betrachtet ihr das Booklet dann als Teil eines Gesamtkunstwerks? Habt ihr auch ein visuelles Konzept zum Album?

JH: Auf jeden Fall. Das Artwork spielt bei uns immer eine große Rolle. Es muss alles stimmig zusammenpassen. Im Booklet ist eine handgezeichnete Illustration zu jedem Tier, teilweise nur dessen Knochen oder bestimmte Teile, anhand derer man es erkennen kann. Und dann stehen da noch Informationen zum Status der Gefährdung, zum Lebensraum und so weiter.

Kann man mit Instrumentalmusik genauso gut, vielleicht sogar besser Botschaften vermitteln, als mit Musik mit Text? Wo seht ihr eure Rolle gerade bei diesem wichtigen Thema?

JR: Wir haben schon bei den Songs vom letzten Album gemerkt, dass wir es spannend finden, neben der Musik auch eine Geschichte zu erzählen. Das macht man dann über Interviews, über Videos, über Social Media. Man hat heutzutage sehr viele Möglichkeiten, sich zusätzlich auszudrücken. Auf der anderen Seite sind wir große Fans davon, gewissen Stimmungen oder in diesem Fall den Tierarten den Soundtrack zu schreiben. Auch Musik ohne Worte kann sehr viel transportieren. Zum Beispiel haben wir in jedem Song Laute der Tiere eingearbeitet, mal sehr offensichtlich, mal sehr verfremdet. So kann man eine gute Story erzählen, bei der die Leute auch über die Themen nachdenken. Beide Videos, die bisher raus sind, haben ebenfalls eine ganz klare Story, sind sehr bewegende und ernste Videos. Der Costin (Chioreanu, Anm. d. R.), der die Videos gezeichnet hat, hat viel Aufwand betrieben, um kleine Kunstwerke zu schaffen.

Ich nehme an, der Albumtitel „Eraser“ steht für die Spezies Mensch. Das klingt sehr endgültig. Gibt es noch Hoffnung, dass sich unsere Rolle ändert?

JH: Eigentlich ist es schon einen Tacken zu spät. Aber irgendwann muss man anfangen. Uns ist es aber wichtig, zu sagen, dass wir als Band auch Teil des Problems sind, weil wir reisen, wir Energie verbrauchen, CO2 erzeugen und so weiter. Ganz klar, der Mensch ist einerseits Verursacher des Problems, aber auch selbst eine dieser Spezies, die darunter leidet. Aber wir sind auch die Einzigen, die was tun können, und da wird es allerhöchste Eisenbahn.

JR: Ich glaube auch, dass es eigentlich schon zu spät ist. Man muss jetzt an verschiedenen Stellschrauben drehen, um zu versuchen, wenn es möglich ist, die Zeit zurückzudrehen. Auf dem Coverartwork des Albums sieht man einen Würfel, den der Mensch in der Hand hält. Auf Tasmanien haben Wissenschaftler in einem Modellprojekt ein großes würfelartiges Objekt aufgestellt, das ganz viele Daten sammelt, wie eine Black Box. Wetterdaten, Social Media-Daten, Klimadaten, um kommenden Generationen zu zeigen: „Wir haben es verkackt, das war der Grund. Macht es bitte besser.“ Wir sind auch teilweise Eltern, wir hoffen schon, dass unsere Kinder nicht in einer komplett kaputten Welt aufwachsen. Man muss aufpassen, dass man bei all der Negativität, die einen umgibt, nicht komplett die Hoffnung aufgibt, sondern tätig wird. Da, wo jemand ansetzen kann, sollte er ansetzen.

Die Leute gehen immer noch sehr verhalten auf Konzerte. Wie nehmt ihr die Lage jetzt wahr?

JR: Die Lage ist nicht ernst. Sie ist, das muss man ganz klar sagen, beschissen. Da gibt es nichts schönzureden. Das Problem in der Live-Branche ist, dass so ein paar große Events wie Rammstein, Rock am Ring und so weiter ein komplett falsches Bild davon liefern, was gerade abgeht. Die Vorverkäufe laufen scheiße und selbst bei ausverkauften Touren kommen 30 bis 40 Prozent der Leute nicht. Diese Erfahrung haben wir auf unserer Tour auch gemacht, jeden Abend. Die Lage ist verdammt ernst und wenn die Leute jetzt nicht anfangen, die Bands, die sie mögen, zu unterstützen, sei es durch Konzerte, Plattenkäufe und so weiter, dann werden wir in den nächsten zwei Jahren ein Clubsterben, ein Veranstaltungssterben und Bandsterben erleben, was in der Geschichte der Musik einzigartig sein wird. Das macht einem schon Angst.

JH: Und für die Vielfalt ist es auch noch schlecht, weil nur die Großen überleben. Die Kunst wird deckungsgleicher mit der Wirtschaft, insofern dass nur die Großen eine Chance haben und die Kleinen eben gucken müssen, wo sie bleiben. Auch, was die Unterstützung angeht.

Ja, irgendwann sind auch die Töpfe leer. Wenn es denn welche gegeben hat.

JR: Wir haben keine Töpfe, aus denen wir irgendwas bekommen haben.

JH: Es ist eine Farce eigentlich.

JR: Künstlern wird gerne Weinerlichkeit vorgeworfen. „Jetzt kriegt doch mal euren Arsch hoch! Hättest du mal was Vernünftiges gelernt.“ Leute, ganz im Ernst, wenn ihr keine Musik mehr habt … für mich ist das Lebensgrundlage. Ohne Musik kann ich mir das Leben nicht vorstellen.

JH: Es ist heutzutage alles selbstverständlich. Man müsste es hinkriegen, mal für eine Woche alles auszuschalten. YouTube, Netflix, alle Musiksachen, alles das, was mittlerweile so selbstverständlich wie die Musik zum Atmen ist. Wenn das weg ist, dann gucken sich die Leute auf einmal um.

JR: Teilweise kann man es ihnen nicht verübeln. Erstens ist jetzt Corona – die Zahlen sind ja gerade so hoch wie nie. Dann wird ja auch noch täglich davon gesprochen, dass wir bald kein Gas mehr haben, dass die Preise durch die Decke gehen. Der Deutsche an sich ist ja eh immer schnell dabei, alles schwarz zu malen.

JH: Die German Angst.

JR: Genau. Dann halten die Leute auch ihr Geld zusammen. Das ist auch verständlich. Und auf der anderen Seite fangen gerade die Bands, zu denen die Leute noch hingehen, jetzt an, 200 Euro für ein Ticket zu nehmen. Das ist auch problematisch. Es entwickelt sich alles in eine Richtung, die einfach nicht gut ist. Vor allem auch in der Szene. Wir kommen ja alle aus dem Rock und Metal. Selbst kaufe ich vor allem Underground-Releases. Aber das sind Bands, die werden dann irgendwann einfach nicht mehr da sein.

JH: Die Szene lebt ja davon.

Mal was Positives: Ich freue mich, dass wir gerade wieder Festivalsaison haben.

JR: Ja, natürlich ist das geil, aber worüber wir gerade gesprochen haben, ist gerade viel zu wenig präsent.

JH: Aber es ist ja ein Paradoxon. Generell in Krisenzeiten ist es wichtig, etwas Positives und Inspirierendes zu haben oder einfach etwas, das einem guttut. Dass die Kunst gerade jetzt so dermaßen ihrer Nahrung entzogen wird, das widerspricht sich total.

Was kann man denn gegen das Kunststerben machen?

JR: Es muss sich in vielerlei Hinsicht wieder dahin entwickeln, dass die Großen nicht dafür sorgen, dass die Kleinen vom Kuchen nichts mehr abbekommen. Das ist ein kleiner Teil des Problems. Auf der anderen Seite müssen die Leute Tickets kaufen und auch wirklich zu den Konzerten hingehen. Und leider muss man sagen, dass es wichtig ist, dass nicht wieder im Herbst und Winter wieder alle Konzerte abgesagt werden wegen Corona.

JH: Das wäre für ganz viele Bereiche der Genickschuss. Was ich persönlich sehr wichtig finde, ist die Kommunikation nach außen. Jetzt ist nicht die Zeit für „Aus logistischen Gründen …“ und anderes Blabla. Die Bands und Veranstalter sollten ehrlich sein und mit deutlicher Sprache sagen, was das Problem ist.

JR: Die ersten Bands fangen ja schon an. Das habe ich schon oft gelesen. Aber um mal mit Zahlen darzustellen, was bei den Bands gerade abgeht: Wenn du vor Corona tausend Tickets verkauft hast, verkaufst du heute vielleicht nur noch drei-, vierhundert.

JH: Dass die Leute nicht zu Konzerten gehen, hat ja Gründe und die sind auch nachvollziehbar. Aber wenn man den Leuten das nicht transparent erklärt, denken die meisten gar nicht groß drüber nach, glaube ich. Die haben immer noch ihre fünf Tickets an der Wand hängen und denen ist gar nicht bewusst, was es bedeutet, eine Tour zu planen. Die Kosten, die Garantien für die Gagen – es ist gerade gar nichts mehr planbar. Und das liegt eben auch an den Leuten, die nicht kommen.

Habt ihr denn auch Probleme gehabt, Tourmitarbeiter zu finden?

JR: Nein, wir haben für die meisten Posten, also FoH (Front of House, der Ort im Publikumsbereich, an dem Licht- und Tontechniker bei einem Konzert arbeiten; Anm. d. Red.), Licht und so weiter sehr loyale, hervorragende Leute. Sollte uns aber einer dieser Leute wegbrechen … Unheimlich viele Stagehands, Tontechniker, Lichttechniker und so weiter haben sich aus der Branche verabschiedet. Dieser Fachkräftemangel sorgt dann dafür, dass die Preise steigen.

JH: Das hat teilweise ganz absurde Züge angenommen. Viele Backlinefirmen und Tourbusunternehmen haben ebenfalls die Segel gestrichen. Und die, die es noch gibt, nehmen jetzt unfassbar viel Geld.

JR: Die Preise fürs Personal haben sich mehr als verdoppelt. Das kann sich keiner leisten.

Das ist also das Long-Covid der Kulturbranche. „Zurück zur Normalität“ ist noch lange nicht.

JR: Ich glaube, den Status quo von 2019 werden wir nie wieder erreichen. Das ist keine Schwarzmalerei, das ist einfach Fakt.

JH: Ist ja auch logisch. Die Preise gehen in den seltensten Fällen wieder runter. Die pendeln sich ein und die Leute gewöhnen sich dran.

JR: Und ein zusätzlicher Faktor ist definitiv der Krieg. Der hemmt uns ja in so vielem. Und jetzt wir jetzt mit so einem Thema, das als Krise so ein bisschen hintansteht, aber eigentlich das Größte ist, was uns alle in den nächsten 20 Jahren betrifft. Denn Artensterben hat ja viel mit Klima zu tun, es hängt alles miteinander zusammen.

Halten wir fest: Krisen überall.

JR: Nichtsdestotrotz lieben wir, was wir tun. Wir haben Spaß daran, Musik zu spielen, und wir finden Musik unglaublich wichtig.

JH: Wir sind nicht lebensverneinend, absolut im Gegenteil. Und darum machen wir diese Aufmerksamkeitsgeschichte. Weil wir in einer lebenswerten Welt leben möchten.

Interview: Marek Firlej

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