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Hanns-Peter Karr und Walter Wehner
Foto: Presse

Gonzo der Große

27. August 2015

Krimi-Kultfigur der 90er Jahre wird wiederbelebt – Literatur-Portrait 09/15

21 Jahre liegt es zurück, dass mit Gonzo Gonschorek ein besonders schmieriger Charakter das Licht der Krimi-Welt erblickte. Es war die Hochzeit der Ruhrgebiet-Krimis, der Dortmunder Grafit-Verlag hatte mit Leo P Ard, Werner Schmitz und Reinhard Junge die Speerspitze dieses Genres unter Vertrag. Gonzo allerdings ließ sich von Beginn an nicht auf das Revier festnageln, er hatte das Interesse von Gisbert Haefs geweckt, der im literarisch renommierten Haffmans Verlag eine eigene Krimi-Reihe betreute. Dort erschien 1994 „Geierfrühling“, nach ein paar erfolgreichen Stories der erste gemeinsame Roman von H.P. Karr und Walter Wehner. Karr, geboren 1955 in Saalfeld, arbeitet als Journalist und Autor, während der 1949 in Werdohl geborene Walter Wehner hauptberuflich in der Erwachsenenbildung tätig ist. Beide sind privat und beruflich im Revier verwurzelt.

Essen – vor der Kulturhauptstadt
Als Karr & Wehner 1992 bei einem Spaziergang in Essen zufällig Zeugen eines Polizeieinsatzes werden, schlägt Gonzos Geburtsstunde: Kurz nach Eintreffen von Polizei und Rettungsdienst springt ein Mann mit Videokamera aus einem Kombi und filmt, wie jemand auf einer Trage aus einem Haus getragen wird. Dem Autorenduo drängte sich dieser Typ „Journalist“ förmlich als Romanfigur auf. Und Gonzo, der mit seiner Kamera stets zu Stelle ist, wenn Sirenen und Blaulicht von Blut und Tragödie künden, traf den Nerv derZeit. Drei weitere Romane folgten, Band zwei wurde mit dem Glauser-Preis als bester Krimi 1996 ausgezeichnet. „Saubere Story, unsauberer Protagonist“, lautete das Fazit der Jury. Neben den Gonzo-Thrillern schrieben Karr & Wehner Hörspiele, Stories und Romane. Im Jahr 2000 wurde das Autorenduo mit dem Literaturpreis Ruhrgebiet ausgezeichnet. Doch die vier Kultromane, die ihre Karriere begründet haben, waren lange Zeit nur noch digital erhältlich.

Nun hat der Essener Klartext-Verlag dankenswerterweise eine gedruckte Neuauflage im schön gestalteten Schuber gewagt. Auf die Frage, wie es dazu kam, antwortet Walter Wehner: „Der Klartext-Verlag wollte die Gonzo-Romane für seine Sommer-Aktion ‚Mordsgebiete‘ haben – und wir haben uns sehr darüber gefreut, neben der E-Book-Ausgabe jetzt auch wieder eine Papierausgabe zu haben. Mit dem Gonzo ‚classic‘ kann man Essen und Umgebung noch einmal wie vor 20 Jahren erleben, also mitten im Strukturwandel und vor dem Euro und bevor ‚wir‘ Kulturhauptstadt wurden.“ Karr ergänzt: „Dazu kommt: Gonzo als hartgesottener Blaulicht-Reporter ist typisch für das seinerzeit in den Kinderschuhen steckende Privatfernsehen. In dem Punkt schließt unser ‚Gonzo‘ nahtlos an Jürgen Lodemanns ‚Essen Viehofer Platz‘ an, in dem es noch um die Verkabelung der Stadt ging.“

Blaulicht und Rampenlicht
Wert legen die beiden allerdings darauf, dass die Figur des Gonzo sie auch nach dem „offiziellen“ Abschluss der Tetralogie stets begleitet hat: „Wir haben immer wieder  Stories und Kurzkrimis für aktuelle Anthologien geschrieben – zuletzt ‚Der zweite Tod der Louise Aston‘ für eine Allgäu-Krimi-Anthologie. Und auch mit unserer Lieblingsfigur Gonzo haben wir neue Stories geschrieben und dabei Gonzo für die heutige Zeit aktualisiert. Nicht nur, dass er, wie alle guten Helden, nicht gealtert zu sein scheint – er arbeitet jetzt unter anderem auch als Paparazzo und macht u.a. ‚Abschüsse‘ vom Soap-Sternchen (‚Blow up, die Zweite‘) oder Volksmusikstars. Aber es gibt auch Gonzo-Stories im guten alten Blaulicht-Milieu, wie etwa ‚Schimanskis Grab‘ oder ‚Nachbarschaftsgeschichte‘.“

Zu Tode amüsiert
Gonzo-Fans, denen die Neuauflage den Mund wässrig gemacht hat und die sich mit den hin und wieder erscheinenden Story-Häppchen nicht zufrieden geben wollen, haben allerdings Grund zur Vorfreude, denn zurzeit ist ein Roman in Arbeit, dessen Erscheinen im Frühjahr 2016 geplant ist: Gonzo ist unterwegs nach Norddeutschland, um auf einer der Ostfriesischen Inseln einen Promi „abzuschießen“. Einen „amüsanten Inselkrimi“ kündigt das Autorenduo an. Damit reitet auch Gonzo auf einem Trend, schließlich wimmelt es in Verlagsvorschauen schon seit einiger Zeit von humorigen Krimis entweder aus der Bergwelt (Dampfnudel- oder Brezelkrimis) oder aber von der Küste. Da spiegelt sich in der Literatur die Flut an kauzigen Regionalkrimis im öffentlich-rechtlichen TV. Den Trend sieht auch H.P. Karr, der als Betreiber des Bochumer Krimiarchivs das Lexikon deutschsprachiger Krimiautoren im Internet (krimilexikon.de) betreibt und daher die Szene gut im Blick hat. „Aber es gibt auch andere Trends“, räumt Karr ein, „wie etwa den Psycho-Thriller (Bernhard Aichner, Sebastian Fitzek, Arno Strobel) oder aktuell der gerade aus dem englischen Raum herüberkommende ‚Domestic Noir‘, also Thriller aus dem bürgerlichen Vorstadtleben in der Tradition von Gillian Flynns ‚Gone Girl‘.“

Er hat nur geschlafen
Dagegen scheint die Revierkrimi-Welle aus den 90er Jahren weitestgehend abgeebbt zu sein – was Karr aber so pauschal nicht stehen lassen möchte: „Der Revierkrimi hat schon einige bedeutsame Charaktere, sowohl Figuren als auch Autoren, hervorgebracht. Denken wir nur an Jörg Juretzka. Und derzeit gibt es eine Reihe von neuen Autoren, die den Revierkrimi wieder beleben: Lucie Flebbe, Thomas Schweres, Mike Steinhausen, Sonja Ullrich und so weiter. Der Revierkrimi ist als nicht tot. Er hat nur geschlafen.“

Und als ob es nicht schon genug Arbeit wäre, die literarische Krimi-Szene im Blick zu behalten, geben Karr und Wehner gleich noch TV-Tipps, denn selbstverständlich ist man auch als Krimi-Autor anfällig für die Erzählweise aktueller Serienproduktionen: „Natürlich gibt es die Klassiker wie ‚The Wire‘, die uns geprägt haben. Und aus der jüngsten Vergangenheit ‚Breaking Bad‘. Dazu die großen Gangster-Epen ‚Boardwalk Empire‘ und ‚Mob City‘. Und als zeitgeschichtliche Serie ‚Deutschland 83‘, die bald bei RTL läuft.“

Kann sich neben diesen Produktionen auch ein Ruhrgebietsgewächs wie der Dortmunder „Tatort“ behaupten? „Der ist Klasse“, bescheinigen die beiden, „auch wenn wir anfangs ein bisschen mit den beiden jungen Kollegen im Team gefremdelt haben. Aber inzwischen: Top! Tolle Bücher, tolle Darsteller.“

Karr & Wehner: Gonzo-Krimireihe Gesamtausgabe | Klartext Verlag | 706 S. | 15,95 €
Live: Mi 2.9. 20.00 Uhr | Zentralbibliothek Essen & Do 15.10. 19.30 Uhr | Literaturhaus Dortmund

Frank Schorneck

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