Was kann der Dokumentarfilm erreichen? Eine ganze Menge, wie der Dokumentarfilm „La Isla – Archive einer Tragödie“ von Uli Stelzner beweist. Sein Film beleuchtet die Folgen der Entdeckung des bis dahin geheimen Polizeiarchives in Guatemala. 2005 wurde dieses Archives per Zufall wegen einer Explosion in Guatemala-Stadt entdeckt. Was folgte, bedeutete die Aufarbeitung einer Jahrzehnte dauernden dunklen Geschichte. Etliche Jahre litt das guatemaltekische Volk unter dem Bürgerkrieg der Militärs und der Guerillagruppen. Viele Menschen verschwanden, wurden inhaftiert, tauchten nie wieder auf. Kaum ein Familienangehöriger wusste, wohin sie gebracht worden waren, was mit ihnen passierte, aus welchen Gründen sie mitgenommen worden waren. Mit der Entdeckung des Polizeiarchives tauchten plötzlich Millionen Akten auf, die das Vergehen der Nationalpolizei in den vergangenen Jahrzehnten dezidiert festhalten. Die Akten wurden, meist von jungen Angehörigen der Bürgerkriegsopfer, systematisch gesichtet, eingeordnet und digitalisiert. Eine Informationsflut über Verbrechen guatemaltekischer Regierenden überrollte die jungen Helfer und offenbarte das Ausmaß der Gräuel des Bürgerkrieges.
Regisseur Uli Stelzner, der schon über 20 Jahre in Latein-Amerika politisch unterwegs ist, hat sich daran gemacht, das Archiv und dessen Bedeutung für die geschichtliche Aufarbeitung in einem einer Medium, das einer breiten Masse zugänglich ist, einzufangen. Bestehend aus Gesprächen Betroffener, archivarischem Filmmaterial sowie Dokumenten, teilweise untermalt mit den traurig-wütenden Klängen eines jungen Cellisten, will der Film zur Wahrheit der tot geschwiegenen guatemaltekischen Geschichte vordringen. Was er enthüllt, ist erschütternd. Ein Geschwisterpärchen zählt die verlorenen Angehörigen auf: Zwei Hände genügen da beim Zählen nicht. Ein junger Mann erzählt, unter welch schrecklichen Bedingungen er zur Welt gekommen ist und wie er in jungen Jahren als Flüchtling lebte. Und dies sind nur Stichproben. Jeder Guatemalteke hat eigentlich eine Geschichte zu erzählen. Jedoch tut er es in der Regel nicht.
Warum?, fragten die Zuschauer im Anschluss an den Film den Regisseur. Die guatemaltekische Gesellschaft lebe immer noch in Angst, antwortete Stelzner. Von Generation zu Generation werde dieses Schweigen weitergegeben. Weder die Medien noch die Regierung haben etwas zur Aufarbeitung der Geschichte beigetragen. Der erste Versuch der Aufarbeitung scheiterte, als der Leiter der Wahrheitsfindung, ein Bischof, umgebracht wurde. Angesichts einer solchen Tatsache, scheint es für jeden Menschen unmöglich, Mut aufzubringen und das Schweigen zu brechen. Spitzelsysteme und eine hohe Kriminalität tragen zudem gewiss nicht zu einem gesunden gesellschaftlichen Klima bei. Selbst den Protagonisten im Film kostete es Überwindung, offen über Verbrechen, die ihren Familien angetan wurden, zu sprechen. Neben dem eigenen Schmerz war es vor allem die Furcht vor Repressionen. In diesem Klima der Angst und des Schweigens konnten bislang die Guatemalteken keinen inneren Abschluss finden. Diese Dokumentation stellt diesbezüglich einen Anfang dar. Eltern gingen mit ihren Kindern zur groß angesetzten Premiere des Films, weil jener aussprechen konnte, wozu sie selber nicht in der Lage gewesen waren.
Mit der Unterstützung seitens der öffentlichen Institutionen durfte Stelzner jedoch nicht rechnen. Im Gegenteil: Nicht nur, dass keine nationale Presse über diesen Film berichtete, die Premiere wurde sogar noch behindert. Strom wurde abgeschaltet, Stelzner erhielt Drohungen. Die Regierung selbst hatte natürlich kein Interesse an dem Film, waren einige ihrer Mitglieder doch Militärs von damals. Präsident Pérez Molina, ehemals selbst Militär, übte Druck auf die ausländischen Botschaften aus, so dass keine Botschaft, inklusive der Deutschen, bei der Premiere präsent war. Die Guatemalteken ließen sich dieses Ereignis jedoch nicht nehmen, verbreiteten es trotz allen Umständen über soziale Netzwerke und kamen zu Hauf. Ein Beispiel dafür, wie bewegte Bilder, die Kraft haben, Veränderungen in einer Gesellschaft herbeiführen können. Denn den Anfang einer Veränderung hat „La Isla“ definitiv gemacht.
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