Es ist das Jahr 1980. „Armageddon Time“, wie der im heftigen Wahlkampf mit Jim Carter befindliche Ronald Reagan, der alles zum Besseren wenden werde, warnt, falls man nicht ihn wähle. Das alles versteht der elfjährige Paul Graff (Michael Banks Repeta) noch nicht so richtig. Ihn interessiert vor allem die Rakete, die ihm sein Großvater (Anthony Hopkins) versprochen hatte. Und der neue Junge in der Klasse: Johnny (Jaylin Webb). Der ist genauso wie Paul immer für einen Spaß zu haben. Gemeinsam spielen sie die Klassenclowns. Schon bald wundert sich Paul, dass der Lehrer bei seinen Bestrafungen seinen neuen, Schwarzen Freund immer strenger rannimmt als ihn. Und auch, dass Johnny aus Geldmangel nicht mit auf den Tagesausflug ins Guggenheim Museum kann, ist für Paul, der aus einer gut situierten Familie stammt, kaum zu verstehen. Denn Paul kommt aus einem recht behüteten Umfeld. Seine Familie hat ukrainisch-jüdische Wurzeln, aber das zurückliegende Leid in Europa ist nur unter vorgehaltener Hand ein Thema und wird vor dem Jungen fern gehalten. Nur sein Großvater, den er sehr liebt, erzählt ihm hin und wieder von den Schrecken des Krieges und der Verfolgung. Sein Vater (Jeremy Strong) hingegen neigt zu cholerischen Anfällen, die Mutter (Anne Hathaway) sitzt zwischen den Stühlen und will es allen Recht machen. Dann soll Paul auf eine Eliteschule, um ihm etwas Disziplin beizubringen und ihn von seinem neuen Freund zu trennen. Mit „Zeiten des Umbruchs“ gelingt James Gray ein rückwärtsgewandter, melancholischer Blick auf jenen Moment der verlorenen Unschuld in Queens im New York der frühen 1980er. Die Stadt ist ziemlich am Ende, doch die berühmten Bilder der vornehmlich von Schwarzen bewohnten Bronx aus jener Zeit, die wie Kriegsbilder anmuten, findet man hier nicht. Eigenheime mit Garten prägen Pauls Wohngegend, in der die Trumps, von denen auch Donald an derselben Eliteschule wie Paul war, ihren Schatten vorauswerfen. Und so scheint der Film mit seinen durchweg tollen Darstellern nicht nur von Pauls verlorener Unschuld, der den Rassismus und Klassismus in seinem Umfeld nicht versteht, sondern von der verlorenen Unschuld eines ganzen Landes erzählen zu wollen.
Schwester Charlotte ist entsetzt. Emilys Roman sei hässlich, vulgär und voller selbstsüchtiger Männer. Emilys Antwort: „Gut!“ Frances O’Connor erzählt in „Emily“ von der Entstehung des Romans „Wuthering Heights“ von Emily Brontë. Dabei lässt die Regisseurin sympathisch Biografisches und (Brontës) Fiktion ineinandergreifen – so, wie es Emily Brontë 1847 tat mit ihrem Buch. Essenz hier wie dort: Befindlichkeit und Seele. Die Sehnsucht nach Freiheit, nach dem Ausleben unermüdlicher Phantasie, die Außenseiterrolle innerhalb der Familie, die tragische Liebe zum Vikar: Sensibel begleitet von anmutiger bis avantgardistischer Instrumentierung (Abel Korzebniowski), spinnt O’Connor eine leidenschaftliche, feministische Ode an die Freiheit von Gedanken – und deren konstruktive Bündelung. Gut!
Menschen sind auch nur Monster, und Monster sind auch nur Menschen. Nach seiner Neuinterpretation von Dario Argentos „Suspiria“ widmet sich Luca Guadagnino nun den Kannibalen. Anders als die klassischen Exploitation-Vertreter verleiht „Bones And All“ seinen Protagonist*innen dabei auch fantastischen Input: Die Kannibalen nämlich erkennen einander, sprich: Sie erschnuppern sich. Und sie verfallen regelmäßig zwanghaft dem verbotenen Appetit. Die Schülerin Marie (Taylor Russell) ist eine Kannibalin. Sie geht auf die Highschool und lebt behütet und versteckt bei ihrem Vater. Ein neuer Vorfall schließlich bewegt Letzteren zur Flucht, woraufhin sich Marie auf die Suche nach ihrer Mutter begibt. Sie begegnet dem gleichaltrigen, abgeklärten Lee (Co-Produzent Timothée Chalamet). Gemeinsam stellen sie sich ihrer Gier, suchen das Leben, verfallen der Liebe. Beruhend auf der literarischen Vorlage von Camille DeAngelis, erzählt Guadagnino spannend und melancholisch vom Außenseiterdasein seiner Protagonist:innen, von den Opfern der eigenen Triebe, von Schuldgefühl, Ausweglosigkeit, Einsamkeit. Musikalisch lässt sich das Paar treiben von Wave-Songs der 1980er.
Ab Minute Eins ist klar: „Echo“ ist kein „normaler“ Krimi. In ruhigen, fast farblosen Bildern, begleitet von jazzigen Bläsertönen der WDR Bigband, sehen wir Kommissarin Saskia Harder (Valery Tscheplanowa) bei einem Einsatz und einer Explosion in Afghanistan. Scheinbar wieder fit, doch traumatisiert, wird sie später in das Kaff Friedland geschickt, um den Fall einer Moorleiche aufzuklären. Sie trifft dort auf die örtliche Polizei, die Moormeisterin (Ursula Werner), einen Schlossherrn und erneut auf eine Bombe. Valeries Trauma (in Gestalt einer pinkfarbenen Wolke) korrespondiert mit unbearbeiteten Vorkommnissen der Vergangenheit, versunken in der Moorlandschaft Friedlands. Ganz ohne Betroffenheitsfloskeln umkreist „Echo“ diese Konstellation mit lakonischem Humor, bisweilen skurril und stilsicher.
Außerdem neu in den Ruhr-Kinos: Magnus Gerttens mitreißende Doku „Nelly & Nadine – Eine wahrhaft unglaubliche Liebesgeschichte“, Mika Kaurismäkis schrulliges Roadmovie „Grump“, Andre Hörmanns Abenteuer „Nachtwald“, Luis Prietos Thriller „Shattered – Gefährliche Affäre“, Christopher Roths Kommune-Drama „Servus Papa, See You in Hell“ und Don Halls und Qui Nguyens Trickfilmabenteuer „Strange World“.
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