Im Jahr 1798 wird die zwanzigjährige, aus wohlhabender Familie stammende Barbe-Nicole Ponsardin – ihr Vater ist Textilfabrikant und Politiker – mit François Clicquot, dem Sohn von Phillipe Clicquot, der 26 Jahre zuvor ein Champagnerhaus gegründet hatte, verheiratet. Es ist eine ganz besondere Liebe. Denn François ist ein sehr zartfühlender, sensibler Mensch, der sehr liebevoll zu seiner Gattin ist. Schon ein Jahr nach der Hochzeit kommt ihr erstes und einziges Kind Clémentine zur Welt. Doch das junge Familienglück wird bald getrübt: Die Sensibilität von François Clicquot, der sich gerne zwischen die Weinstöcke legt und an der Erde riecht, steigert sich in den kommenden Jahren zu einer Exzentrik, die im Freitod endet. Seine 27-jährige Witwe übernimmt die Firma gegen den Willen des Schwiegervaters und der Konkurrenz, die das Haus gerne aufkaufen möchte. All das erzählt Thomas Nappers Spielfilm „Die Witwe Clicquot“ nicht linear, sondern im ständigen Wechsel der Gegenwart. Die Übergänge zwischen den Zeitebenen sind raffiniert ineinander verwoben und gleitend. So erleben wir auch die Emanzipation der jungen Barbe in einer Männerwelt, in der weibliche Unternehmerinnen nicht vorgesehen sind, immer im Wechsel mit ihrer Vergangenheit. Als Barbe-Nicole Clicquot-Ponsardin – so ihr Name seit der Hochzeit – das Champagnerhaus übernimmt, werden jährlich Flaschen im unteren sechsstelligen Bereich vertrieben. Mit Hilfe der Ideen ihres verstorbenen Mannes und der logistischen Hilfe des Weinhändlers und Freundes ihres Mannes, Louis Bohne, nimmt sie die neuen Herausforderungen an. Bei ihrem Tod 1866 hatte sie den Umsatz des Unternehmens mehr als versiebenfacht.
Ludovic Chevalier (erdrückend wortlos: Maxwell McCabe-Lokos) steht ein Prozess bevor: Ihm wird vorgeworfen, im Rahmen von Live-Events im Darknet drei Mädchen zu Tode gefoltert und zerstückelt zu haben. Chevalier sitzt im Gerichtssaal in einem Glaskasten und folgt dem Geschehen schweigend und unbeteiligt. Im Zuschauerraum: Kelly-Anne (Juliette Gariépy), die unweit des Gebäudes übernachtet, um sich an jedem Prozesstag einen Platz zu sichern. Während die Mutter eines der Opfer im Laufe des Verfahrens eine emotionale Tour de Force durchmacht, verfolgt Kelly-Anne die Eingangsplädoyers, die Anhörungen und die Beweisaufnahme mit kaltem Blick. Ein Blick, der immerzu Chevaliers Blick sucht. Draußen vor den Mikros der Presse begegnet sie der jüngeren Clementine (Laurie Babin), die Chevalier kategorisch verteidigt – Unschuldsüberzeugung statt bloß Unschuldsvermutung. Die beiden Frauen lernen sich kennen. Pascal Plantes „Red Rooms - Zeugin des Bösen“ ist ein schauerlicher, intensiver, hypnotisch auf die Leinwand gebannter (Kamera: Vincent Biron) Psychothriller mit Horror-Elementen. Die spannungsvoll aufgeladene Geschichte einer psychologisch auffälligen Frau, die aus verstörenden Motiven heraus einem Prozess beiwohnt. Die Groupie ist, Voyeurin, True Crime-Fan. Verstörend gut.
Schon als Kind ist Andrzej anders. Alle merken es, aber niemand spricht darüber. Als junger Mann trifft er Iza, es ist Liebe auf den ersten Blick. Sie heiraten, bekommen Kinder, sind glücklich. Aber Andrzej zieht sich immer mehr zurück, bis er es nicht mehr aushält und Iza offenbart, dass er eine Frau ist und auch als solche leben will. Für beide beginnt ein schwieriger Prozess. Małgorzata Szumowska und Michał Englert haben eng mit der polnischen LGBTQI+-Community zusammengearbeitet. Anielas Geschichte vereint so Erfahrungen verschiedener Betroffener. Dank der Chemie zwischen den Hauptdarsteller:innen Małgorzata Hajewska-Krzysztofik und Joanna Kulig, einer poetischen Bildsprache und der empathischen Narration vermittelt sich Anielas und Izas Liebes- und Lebensgeschichte in „Frau aus Freiheit“ ohne große Worte.
Außerdem neu in den Ruhr-Kinos: das Roadmovie „Marianengraben“ von Eileen Byrne, das Dalai-Lama-Portrait „Weisheit des Glücks“ von Barbara Miller und Philip Delaquis, das bewegende, nächtliche Teheran-Portrait „Critical Zone“ von Ali Ahmadzadeh, die außergewöhnliche Liebesgeschichte „Die feige Schönheit“ von Moritz Krämer, das Doku-Spiel „Bekenntnisse des Hochstaplers Thomas Mann“ von André Schäfer, die Schwestern-Geschichte „Kreis der Wahrheit“ von Robert Hofferer, die Fest-Action „Red One – Alarmstufe Weihnachten“ von Jake Kasdan und der Horrorthriller „Spirit in the Blood“ von Carly May Borgstrom. Dazu starten für die Jugendfraktion „Tony, Shelly und das magische Licht“ von Filip Pošiva und „Niko – Reise zu den Polarlichtern“ von Kari Juusonen, Jørgen Lerdam.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Die Möglichkeiten der Inseln
Die Filmstarts der Woche
Schummerlicht und Glitzerhimmel
Suzan Köcher's Suprafon in der Bochumer Goldkante – Musik 12/24
Unglaublich, aber essbar
Todmorden und die Idee der „essbaren Stadt“ – Europa-Vorbild England
Offen und ambitioniert
Andreas Karlaganis wird neuer Generalintendant in Düsseldorf – Theater in NRW 12/24
„Das Ruhrgebietspublikum ist ehrlich und dankbar“
Oliver Flothkötter über „Glückauf – Film ab!“ und Kino im Ruhrgebiet – Interview 12/24
Regenverhangen
Weavers Gallery in Bochums Goldkante
Kampf den weißen Blättern
Zwischen (Auto-)Biografie und Zeitgeschichte – ComicKultur 12/24
Intime Weltenwanderer
Markus Stockhausen und Ferenc Snétberger im Parkhotel Engelsburg – Improvisierte Musik in NRW 12/24
Eine wahre Liebesgeschichte
Thomas Strässles „Fluchtnovelle“ – Textwelten 12/24
Triumph der Güte?
„La Cenerentola“ in Essen und Hagen – Oper in NRW 12/24
Die Grenzen der Bewegung
„Danses Vagabondes“ von Louise Lecavalier in Düsseldorf – Tanz an der Ruhr 12/24
Zwischen Utopie und Ökoterrorismus
Tagung „Klimafiktionen“ in Bochum – Literatur 12/24
Nostalgie ist kein Zukunftskonzept
Teil 1: Leitartikel – Die Politik Ludwig Erhards taugt nicht, um gegenwärtige Krisen zu bewältigen
Goldene Flügel der Sehnsucht
Großes biblisches Drama: „Nabucco“ an der Oper Köln – Oper in NRW 12/24
Besuchen Sie Europa
Die Studie Made in Europe und ihre Folgen – Vorspann 12/24
Freigelegte Urinstinkte
„Exposure“ auf PACT Zollverein in Essen – Prolog 11/24
Aus zwei Sammlungen
Das frühe 20. Jahrhundert im Kunstmuseum Mülheim – kunst & gut 11/24
Unerwartet Kaiserin
„Der Kreidekreis“ in Düsseldorf – Oper in NRW 11/24
Stimme gegen das Patriarchat
„Tabak“ am Essener Grillo-Theater – Prolog 11/24
Krieg und Identität
„Kim“ auf PACT Zollverein in Essen – Tanz an der Ruhr 11/24
Tolerante Szene
An diesem Abend gehen Kölner Jazzbühnen fremd – Improvisierte Musik in NRW 11/24
Pessimistische Gewürzmädchen
Maustetytöt im Düsseldorfer Zakk – Musik 11/24
Ehrung für ein Ruhrgebiets-Quartett
Verleihung des Brost-Ruhr-Preises 2024 in Bochum – Spezial 11/24
Keine falsche Lesart
Ree Morton und Natalie Häusler im Kunstmuseum Bochum – Ruhrkunst 11/24
Komm, süßer Tod
„Fauré Requiem“ in der Historischen Stadthalle Wuppertal – Musik 11/24