Eingeklemmt hinter einem Traktor, wartet die königliche Kutsche mit „Sissi“ an einer Bahnschranke. Der herannahende Zug kündigt sich mit bedrohlicher Geräuschkulisse an und lässt die hinter den Traktor geduckte Kutsche noch kleiner wirken. Es gibt einige solcher eindrucksvollen Momente zwischen Tragik und Komik in Marie Kreutzers neuem Film „Corsage“ – visuelle in Szene gesetzt von Bildgestalterin Judith Kaufmann („Der Junge muss an die frische Luft“, „Das Vorspiel“), die den Zustand der österreichisch-ungarischen Kaiserin Elisabeth, seit 1955 besser bekannt als Sissi, anschaulich zeigen: In die Passivität gezwungen, erahnt sie die Zukunft, während sie doch in der Vergangenheit feststeckt. So oder ähnlich könnte sich Elisabeth von Österreich, ehemalige Herzogin von Bayern, im Jahr 1877 mit 40 Jahren gefühlt haben. Der Film findet viele solcher tollen, mitunter auch sehr komischen Bilder für die Zerrissenheit der weltberühmten Kaiserin, die schon zu Lebzeiten eine Art unfreiwilliger Popstar war, aber auch schon früh um Selbstbestimmung gerungen hat. Mit Anfang 30 entscheidet sie, sich nicht mehr fotografieren zu lassen, zehn Jahre später lässt sie sich nicht mehr malen. In der Öffentlichkeit verbirgt sie immer häufiger ihr Gesicht hinter einem Schleier, mitunter lässt sie sich von ihrer Friseurin und engsten Vertrauten bei öffentlichen Auftritten doublen. „Es ist doch wahnsinnig spannend, dass diese Frau quasi vor aller Augen verschwunden ist!“, sagt Regisseurin Marie Kreutzer über diese sehr frühe Selbstermächtigung einer Frau, die versucht, sich der medialen Öffentlichkeit und den mit ihrer Staatsrolle einhergehenden Pflichten zu entziehen.
Lieblingsmotiv des 2016 verstorbenen Zeichners Manfred Deix waren spießige, kleinkarierte Bürger:innen. Diesen hielt er in seinen Karikaturen stets den Spiegel vor Augen. In seinem ersten Animationsfilm „Willkommen in Siegheilkirchen“ orientiert sich Rosenmüller an Deix‘ Biografie und Figuren und wirft einen bösen Blick auf Nachkriegsösterreich. Im Ort der Handlung steckt braunes Gedankengut noch in den Poren der Bewohner. Der Friseur schneidet Hitlerfrisuren, im Wirtshaus fliegen Stammtischparolen und gegen die in der Nähe lebenden Roma herrscht offener Fremdenhass. Hier wächst ein Junge, der spätere Deix, auf, der sich durch seine Zeichnungen aus diesem Mief befreit. Wer sich an seinen Karikaturen in Stern und Spiegel erfreute, kommt hier auf seine Kosten und wird erinnert, dass Siegheilkirchen leider noch vielerorts existiert.
Mort Rifkin (Wallace Shawn, „Manhattan“) bezeichnet sich selbst als Mittelstandsjungen aus der Bronx, und Mort liebt das Kino. Also, das europäische Kino. Heute geht er mit seiner Frau, der PR-Beraterin Sue (Gina Gershon), durch seinen Ruhestand – in permanenter Unruhe. Mort rennt nicht nur noch immer seinem unvollendeten Debütroman hinterher, sondern auch dem Sinn des Lebens, und er brüskiert sich dabei unaufhörlich genüsslich über die zeitgenössische Filmkultur. Gemeinsam mit Sue besucht er gerade das Filmfestival von San Sebastian. Dort erliegt Sue zusehends dem Charme des gefeierten Nachwuchs-Regisseurs Philippe (Lois Garrel). Mort nimmt daraufhin verzweifelt die Ärztin Jo (Elena Anaya) ins Visier. Bewährt redselig und flott führt Woody Allen durch seine neue Tragikomödie „Rifkin‘s Festival“, die zugleich eine wundervolle Liebeserklärung an das Kino darstellt. Und an Europa.
Außerdem neu in den Ruhr-Kinos: Laura Bispuris Familiendrama „Das Pfauenparadies“ , Bernabé Ricos Freundinnen-Drama „Vier Wände für zwei“, Anika Deckers Gender-Clash-Komödie „Liebesdings“ und, bereits ab Mittwoch, Taika Waititis Comic-Spektakel „Thor: Love and Thunder“. Dazu starten Mark Schlichters turbulentes Jugendabenteuer „Alfons Zitterbacke: Endlich Klassenfahrt!“ und Michael Ekbladhs Trickfilm „Karlchen - Das große Geburtstagsabenteuer“.
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