
Le Havre
Liechtenstein, Frankreich, Deutschland 2011, Laufzeit: 93 Min., FSK 0
Regie: Aki Kaurismäki
Darsteller: André Wilms, Kati Outinen, Blondin Miguel, Laika, Jean-Pierre Darroussin, Elina Salo
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Sozialrealistisches Märchen
Ein frommer Wunsch
„Le Havre“ von Aki Kaurismäki
Man kann das Autorenkino in zwei Gruppen einteilen: Jene Regisseure wie Stanley Kubrick oder Lars von Trier, die sich mit jedem Film neu erfinden und von Film zu Film neue Themen, einen neuen visuellen Stil, neue Technik, insgesamt eine neue Produktionsart erarbeiten. Und dann gibt es die Filmemacher, die anstatt virtuos auf der maximalen Klaviatur der Ausdrucksmöglichkeiten zu spielen ihre ganz eigene Handschrift immer mehr verfeinern. Der Spanier Pedro Almodovar ist ein solcher Auteur, der Österreicher Ulrich Seidl und der Finne Aki Kaurismäki haben ebenfalls ihre filmischen Mittel sehr genau abgesteckt und arbeiten seit Jahren an deren Verfeinerung. Kaurismäki hat nach nur 16 Kinofilmen in knapp 30 Jahren seinen Stil derart minutiös definiert, dass man inzwischen seine Handschrift an jeder einzelnen Einstellung ablesen kann. Die Schauspieler, die Dialoge, die lakonische Stimmung, das Setting – all das ist 100% Kaurismäki.
Solidarität in der Stammkneipe
Marcel Marx (André Wilms, „La vie de Bohème“) war einst ein Schriftsteller in Paris, doch der Durchbruch gelang ihm nie. Inzwischen ist er als Schuhputzer in der französischen Hafenstadt Le Havre gelandet. Zusammen mit seiner Frau Arletti (Kati Outinen) lebt er ein bescheidenes Leben. In ihrem ärmlichen Stadtteil wohnen sie in einem kleinen Häuschen. Abends kocht Arletti ein schlichtes Mahl, danach geht Marcel gerne in seiner Stammkneipe noch einen Trinken. Er ist wortkarg, verbittert ist er aber nicht. Eines Tages findet er bei seiner Rückkehr Arletti auf dem Boden gekrümmt. Sie muss ins Krankenhaus, wo man nach einer Untersuchung Krebs in fortgeschrittenem Stadium diagnostiziert. Als er wieder wie gewohnt auf seine Schuhputz-Tour geht, und seine Mittagspause am Hafen abhält, entdeckt er den von der Polizei gesuchten Jungen Idrissa (Blondin Miguel) und überlässt ihm sein Mittagessen. Abends findet er Idrissa in seinem Schuppen. Von nun an versteckt er den Jungen, und das ganze Viertel hilft mit, ihn vor dem Zugriff der Polizei zu schützen. Die hatte ihn mit anderen Migranten in einem Container am Hafen entdeckt. Marcel macht sich nun auf, Angehörige von Idrissa ausfindig zu machen. Dafür besucht er Migranten in Le Havre und sucht sogar ein Asyllager auf. Derweil ist ihm längst Kommissar Monet auf der Spur. Und wie man Idrissa zu seiner Mutter nach London bringen soll, ist auch alles andere als klar.
Aus der Zeit gefallen, aber brandaktuell
„Le Havre“ ist detailreiches Zitatenkino. Kaurismäki erweist mit seinem Film seinen Vorbildern auf vielfältigste Art die Ehre. Marcel Carnés „Hafen im Nebel“ steckt das Szenario ab, Jacques Tatis humanistischer Konservativismus prägt Kaurismäkis Liebe zu den kleinen Leuten – mit dem märchenhaften Grundton setzt er sich wie Tati über die Schattenseiten der modernen Welt hinweg. Da ist der Finne ebenso schwarzweiss-malerisch wie Tati: die Guten repräsentieren das Alte, die Bösen sind mit den Insignien der modernen Welt ausgestattet. Darum läuft im Gegensatz zu seinen diensteifrigen Kollegen der verständnisvolle Inspektor Monet auch obercool in Trenchcoat und altmodischem Hut durch die Gegend.
Das Zitieren reicht bis zum Selbstzitat, wenn der Protagonist als der gleichnamige Literat aus „Das Leben der Bohème“ (1992) auszumachen ist – seinerzeit ebenfalls verkörpert von André Wilms – oder alte Weggefährten wie Kati Outinen oder gar Nouvelle Vague-Legende Jean Pierre Léaud mit einem Kurzauftritt als Bösewicht die Leinwand bevölkern. Mit dem Auftritt von Little Bob hat er auch wieder einen Musiker ausgegraben, der zur Kölner Premiere sogar ein Konzert im Kino geben wird. Aber nicht nur der Stab wirkt wie ein eingespieltes Theaterensemble, das seit Jahren erfolgreich Stoffe interpretiert, auch ästhetisch nähert sich Kaurismäki immer mehr einer Theaterästhetik, die allerdings eindeutig mit filmischen Mitteln zum Leben erweckt wird. Die Kulissen scheuen nicht, auf ihre Künstlichkeit zu verweisen. Die Wände sind in gedeckten Farbtönen gehalten, die man bereits aus anderen Filmen des Regisseurs kennt. Die Accessoires sind altertümlich, und doch sieht alles zugleich neu aus – wie fabrikneue Antiquitäten. Überhaupt wirken sowohl die Orte als auch die Figuren wie aus der Zeit gefallen, und die wenig dezente Lichtsetzung lässt die kleinen Leute des Viertels wie Helden auf der Bühne erstrahlen. Unverzichtbar bei dieser visuellen Ausgestaltung ist natürlich Kaurismäkis Hausfotograf Timo Salminen, der von Anbeginn seinen Landsmann bei seiner Filmarbeit mit den passenden Bildern unterstützt. Für „Le Havre“ findet er eine ruhige Filmsprache, die sich Zeit nimmt, die Details fast stillebenhaft einzufangen und so einen Kontrapunkt zur Geschwindigkeit des gegenwärtigen Alltags entwirft. Es wäre ein Leichtes, Aki Kaurismäki Formalismus vorzuwerfen. Doch der Vorwurf greift nicht. Wer mit einer solch formelhaften Ästhetik derart aktuelle und wahrhaftige Inhalte transportiert, der hat sich definitiv nicht in oberflächlichem Manierismus verloren. Und wer das Ganze demonstrativ als Märchen verpackt, verklärt nicht die Wirklichkeit, sondern wünscht sich nur eine andere Wirklichkeit.
Cannes 2011: FIPRESCI-Filmpreis
(Christian Meyer)

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