Intime Fremde
Frankreich 2003, Laufzeit: 104 Min.
Regie: Patrice Leconte
Darsteller: Sandrine Bonnaire, Fabrice Luchini, Michel Duchaussoy, Anne Brochet, Gilbert Melki, Laurent Gamelon, Urbain Cancelier
Es gibt keinen Zufall. Was man eine "Freud'sche Fehlleistung" nennt – ein Versprecher, ein Vergessen oder sonst irgendein Fehltritt – beruht auf der Annahme, dass Gedanken und Handlungen determiniert sind durch unbewusste Motive. So behaupten es jedenfalls die Psychoanalytiker. Der ironische Einstieg in diesen kammerspielartigen Gefühls-Thriller von Patrice Leconte ("Der Mann der Friseuse") ist eine Verwechslung: Anna (Sandrine Bonnaire) will einen Therapeuten aufsuchen, klingelt aber an der falschen Tür. Statt auf der Therapie-Couch landet sie auf der Ruheliege im benachbarten Büro des Steuerberaters William (Fabrice Luchini). Sie plaudert freizügig über ihre Sex-Probleme. Der schüchterne, leicht verklemmte, nach einer Scheidung allein lebende Mann gerät unversehens in die ihm fremd und gefährlich erscheinende Welt der unbekannten Frau. Es entwickelt sich ein ambivalentes, aber stetiges Mit- und Gegeneinander, selbst als Anna das Missverständnis bemerkt. Pech für den wirklichen Psychoanalytiker, der zwar ein kleines Honorar bekommt, weil William ihn Hilfe suchend konsultiert, aber ansonsten den Fall dem Finanz-Analytiker überlassen muss: weil plötzlich neue, echte Gefühle ins Spiel kommen, oder genauer gesagt: weil überhaupt ein Spiel entsteht: ein Beziehungs-Spiel, wie man es so spannend und facettenreich nur selten im Kino zu sehen bekommt.Der Regisseur beschreibt mit atemberaubend minimalistischer filmisch-visueller Auflösung und in feinsten Nuancen das tiefe emotionale Gefühlsgeflecht des gegensätzlichen Paares, die seltsamen Wege des Verlangens, das gemeinsame Suchen nach Befreiung. Auf die Interview-Frage, was ihrer Ansicht nach von diesem Film bleiben wird, antwortete Sandrine Bonnaire: "Freude und Leichtigkeit". Seltsam für ein Werk, das sich formal bewusst in die eher düstere Genre-Tradition des Thrillers stellt. Auch dies nur ein Spiel? Patrice Leconte beherrscht es jedenfalls perfekt, wobei ihm mit dem brillanten Drehbuch von Jérôme Tonnerre und dem meisterhaften Edouardo Serra als Kameramann zwei unvergleichliche Trümpfe zur Verfügung standen. Vor allem aber die beiden Hauptdarsteller verleihen dem inszenatorisch virtuosen Lebens- und Liebes-Drama durch ihre überragenden darstellerischen Leistungen eine unglaubliche Wirkung.
(Heinz Holzapfel)
Die ganze Palette Kino
9. European Arthouse Cinema Day – Festival 11/24
Filmfestivalmonat November
Mit der Duisburger Filmwoche, Doxs! und dem Blicke – Filmfestival des Ruhrgebiets – Vorspann 11/24
Kunst des Nicht-Wegschneidens
„Anna Zeit Land“ im Filmforum – Foyer 10/24
Restitution von Kolonialraubkunst
„Dahomey“ und „The Story of Ne Kuko“ im Filmforum – Foyer 10/24
Reise in die Seele des Kinos
Die Ausstellung „Glückauf – Film ab“ in Essen – Vorspann 10/24
„Die Geschichte ist jetzt unfassbar aktuell“
Regisseur Andreas Dresen über „In Liebe, Eure Hilde“ – Gespräch zum Film 10/24
Programmkollaps
Vergraulen immer komplexere Kinoprogramme das Publikum? – Vorspann 09/24
Zurück zum Film
Open-Air-Kinos von Duisburg bis Dortmund – Vorspann 08/24
Der Sieg des Glaubens
„Führer und Verführer“ im Kölner Odeon mit Regisseur Joachim Lang – Foyer 07/24
„Poor Things“, reiches Cannes
Eine Bilanz der ersten sechs Kinomonate – Vorspann 07/24
Lichtspiele mit Charme
Eröffnung der Ausstellung „Glückauf – Film ab!“ im Ruhr-Museum – Foyer 07/24
„Es geht um Geld, Gerechtigkeit und Gemeinschaft“
Regisseurin Natja Brunckhorst über „Zwei zu eins“ – Gespräch zum Film 07/24
Der Tod, der uns verbindet
NRW-Premiere von Eva Trobischs „Ivo“ – Foyer 06/24
Ewige Stadt, ewiges Kino
In Rom werden aus alten verlassenen Kinos wieder Kinos – Vorspann 06/24
Ein letzter Blick von unten
„Vom Ende eines Zeitalters“ mit Filmgespräch im Casablanca Bochum
„Wir erlebten ein Laboratorium für ein anderes Miteinander“
Carmen Eckhardt über „Lützerath – Gemeinsam für ein gutes Leben“ – Portrait 05/24
Grusel und Begeisterung
„Max und die wilde 7: Die Geister Oma“ mit Fragerunde in der Schauburg Dortmund
Der Kurzfilm im Rampenlicht
Die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen 2024 – Vorspann 05/24
Wenn Kino Schule macht
Die Reihe Filmgeschichte(n) spürt Schulgeschichten auf – Festival 05/24
„Ich wollte die Geschichte dieser Mädchen unbedingt erzählen“
Karin de Miguel Wessendorf über „Kicken wie ein Mädchen“ – Portrait 04/24
Mehr als „Malen-nach-Zahlen-Feminismus“
„Ellbogen“ im Kölner Filmpalast – Foyer 04/24
Sichtbarkeit vor und hinter der Leinwand
Das IFFF fordert Gleichberechtigung in der Filmbranche – Festival 04/24
„Viel Spaß beim Film“
Vom Ende der Platzanweiser:innen – Vorspann 04/24
„Ich mag realistische Komödien lieber“
Josef Hader über „Andrea lässt sich scheiden“ – Roter Teppich 04/24
Was läuft im Kino?
Über die Programmierkunst echter und gespielter Helden – Vorspann 03/24