Sonderling in einem fremden Land, misstrauisch beäugt wegen seiner Herkunft, obwohl er doch vor jenem Schrecken geflohen ist, mit dem ihn so viele in Verbindung bringen. Die Rede ist von Wolf, der Hauptfigur aus Feridun Zaimoglus Roman „Siebentürmeviertel“: ein deutscher Junge in den 1930ern, der mit seinem Vater vor dem Nazi-Terror in die Türkei geflohen ist; ins Armenviertel von Istanbul, das nach langem Ringen dann doch seine Heimat werden sollte.
Wie aktuell diese ungewöhnliche Geschichte über Flucht, Integration und Heimat werden sollte, habe er nicht geahnt, so Zaimoglu im Medienforum des Bistums Essen. Dort las er aus seinem 800 Seiten starken Werk und zog das Publikum mit seiner assoziativen, doch glasklaren Sprache und einer eindringlichen Stimme in den Bann. „Sie nennen mich Windhundwelpe des Führers. Sie sprechen mir eine vererbte Mordlust zu“, sagt Wolf. „Sie bitten mich, deutsche Worte zu sprechen. Ich sage Honig.“
Elliptische Sätze, von Zaimoglu mal stakkatoartig, mal ganz ruhig vorgetragen, wirken wie Beschwärungsformeln, die langsam, aber dafür umso deutlicher, ein Bild des Siebentürmeviertels aufscheinen lassen: von Gassen und Hinterhöfen, von Schulen mit strengen Lehrern und grausamen Kindern, von jener wilden Welt, in der das deutsche Flüchtlingskind Wolf seinen Platz finden muss. Wenn Zaimoglu liest, zeichnet er den Rhythmus seiner Sätze in der Luft nach, seine Stimme verändert sich und er verschwindet vollkommen hinter seiner sprachgewaltigen, eigentlich schon lyrischen Prosa.
„Ich kann nur schreiben, wenn ich als Zaimoglu komplett verschwunden bin“, sagt der Schriftsteller. Vier Jahre habe er an dem Buch geschrieben, anderthalb davon brauchte er für jenen Vorgang, den er „Anverwandlung“ nennt: also dafür, komplett hinter seiner Figur Wolf zu verschwinden und allein ihn sprechen zu lassen. Auch wenn sich biographische Parallelen nicht verleugnen lassen: „Ich kann meine eigenen Erfahrungen nicht denen von Wolf überstülpen“, sagt der türkischstämmige Autor. Zumal die Situation damals, in der frisch gegründeten türkischen Republik, einfach eine andere war. „Es hat eine goldene Zeit gegeben“, sagt er, und meint damit nicht die Atatürk'sche Frühzeit der Türkei generell – da gebe es viele falsche Mythen, bis zum Kleinreden des Völkermords an den Armeniern, führt er aus. Er meint das Istanbuler Siebentürmeviertel, in dem auch sein Vater einst lebte: Juden, Christen, Muslime, Armenier, Geflüchtete aus allen Ländern lebten auf engem Raum, freilich nicht in immer in strahlender Bilderbuch-Harmonie – aber Multi-Kulti funkionierte. „Wir denken, wir erfinden alles neu und diese Gesellschaft hat es vorher nicht gegeben“, gibt Zaimoglu zu bedenken.
Kritik an Ursprungsmythen der türkischen Republik, die Debatte um Flucht und Fremdenfeindlichkeit mögen wichtige Facetten des Romans sein, trotzdem sei „Siebentürmeviertel“ weder politischer Roman noch Historienerzählung. Zumindest nicht in erster Linie: „Es geht ums Wurzeln schlagen“, sagt der Autor. Und um die Einsamkeit eines Kindes.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.
Magischer Realismus
Charlotte Brandi liest in Dortmund aus ihrem Debütroman „Fischtage“ – Lesung 08/25
Augen auf Entdeckungsreise
„Jetzt geht’s los!“ von Philip Waechter – Vorlesung 08/25
Düster und sinnlich
„Das hier ist nicht Miami“ von Fernanda Melchor – Textwelten 08/25
Erste Male zwischen den Welten
„Amphibium“ von Tyler Wetherall – Literatur 08/25
Die Kraft der Erinnerung
„Das Geschenk des Elefanten“ von Tanja Wenz – Vorlesung 07/25
Eine wahre Fluchtgeschichte
„Wie ein Foto unser Leben rettete“ von Maya C. Klinger & Isabel Kreitz – Vorlesung 07/25
Zart und kraftvoll zugleich
„Perlen“ von Siân Hughes – Textwelten 07/25
Alternative Realität in Tokyo
„Tokyo Sympathy Tower“ von Rie Qudan – Literatur 07/25
Bis zur Neige
„Der Durst“ von Thomas Dahl – Literatur 06/25
Im Reich der unsichtbaren Freunde
„Solche Freunde“ von Dieter Böge – Vorlesung 06/25
Ein Hund als Erzähler
„Zorro – Anas allerbester Freund“ von Els Pelgrom und Sanne te Loo – Vorlesung 06/25
Flucht ins Metaverse
„Glühfarbe“ von Thea Mantwill – Literatur 06/25
Ein Leben, das um Bücher kreist
„Roberto und Ich“ von Anna Katharina Fröhlich – Textwelten 06/25
Hartmut und Franz
Oliver Uschmann und sein Roman über das Verschwinden von Kafka – Literaturporträt 06/25
Die Spielarten der Lüge
„Die ganze Wahrheit über das Lügen“ von Johannes Vogt & Felicitas Horstschäfer – Vorlesung 05/25
„Charaktere mit echten Biografien“
Oliver Uschmann über seinen Roman „Ausgefranzt“ – Literatur 05/25
Starkregen im Dorf der Tiere
„Der Tag, an dem der Sturm alles wegfegte“ von Sophie Moronval – Vorlesung 05/25
Im Fleischwolf des Kapitalismus
„Tiny House“ von Mario Wurmitzer – Literatur 05/25
Ein Meister des Taktgefühls
Martin Mosebachs Roman „Die Richtige“ – Textwelten 05/25
Die Unschärfe der Jugend
Diskussion über junge Literatur im Essener KWI – Literatur 04/25
Die Kunst der zärtlichen Geste
„Edith“ von Catharina Valckx – Vorlesung 04/25
Unglückliche Ehen
„Coast Road“ von Alan Murrin – Literatur 04/25
Über Weltschmerz sprechen
„Alles, was wir tragen können“ von Helen Docherty – Vorlesung 04/25
Erinnerungskultur
Gegen Vergessen und für Empathie – ComicKultur 04/25
„Die großen Stiftungen scheinen es nicht zu kapieren“
Gerd Herholz über sein Buch „Gespenster GmbH. Interventionen aus dem Ruhrgebiet“ – Interview 04/25