Ein Freitagabend, ich sprinte zum Dortmunder CineStar, denn dort beginnt heute mein ganz persönlicher Kinomarathon. 100 Jahre gibt es den türkischen Film nun schon, 1914 erschien der erste türkische Stummfilm „Die Zerstörung des russischen Denkmals in San Stefano“. Gewidmet wird das Türkische Filmest Ruhr dem im letzten Jahr verstorbenen Tuncel Kurtiz, der aufgrund seiner vielfältigen gesellschaftskritischen Filme international bekannt wurde. Bis zum 10. Mai zeigt das Interkulturelle Bildungszentrum (IBZ) in Kooperation mit zahlreichen Partnern eine Auswahl der besten türkischen Filme. Ein Highlight dürfte sicherlich der deutsch-türkische Stummfilm „Das Fest der schwarzen Tulpe“ aus dem Jahr 1920 sein, der live mit der Musik von Pianist Wolfgang Schneider untermalt wird. Doch bevor es wirklich ernst wird, wartet der Eröffnungsfilm auf uns. Es soll eine Komödie sein, sehr gut, denn ich liebe Komödien. Und was lese ich noch? Grünen-Politikerin Claudia Roth hat bei diesem Film mitgespielt? Es wird spannend…
Schon kurz nach dem Betreten des CineStars sehe ich unsere Ministerin dann auch. Unschwer ist sie unter den anderen, meist dunkel gekleideten Besuchern auszumachen, denn eine Art giftgrüner Batik-Filzmantel liegt um ihre Schultern. Sympathisch kommt sie rüber, sie lacht und scherzt die ganze Zeit. Ich bin wirklich gespannt, welche Rolle sie in „Entelköy Efeköy'e Karşı/Entelköy gegen Efeköy“, so ist der Titel des Eröffnungsfilms, übernimmt. Neben der Politikerin sind auch noch Regisseur Yüksel Aksu und die beiden Schauspieler Nihat Kapız und Engin Akın anwesend. Die Vier haben viel Spaß, sie sitzen zwei Reihen vor mir in dem großen Kinosaal 4, albern herum und machen auf diese Art wirklich Lust auf den bevorstehenden Film. Dass es lustig wird, kann ich schon jetzt mit gutem Gewissen unterschreiben.
„Entelköy Efeköy'e Karşı“ ist eine politische Komödie, die sich, wie Claudia Roth in dem anschließenden Filmgespräch erklärt, in den Kontext der Proteste rund um den Gezi-Park in Istanbul im vergangenen Jahr einbetten lässt. 2013 war der städtische Park in der Beyoğlu-Kommune Ausgangspunkt landesweiter Proteste geworden. Anlass waren die Pläne zur Überbauung des Parks, die zu einer großflächigen Zerstörung der ohnehin spärlich gesäten Grünflächen in Istanbul geführt hätten. Aksus Film behandelt eine ähnliche Thematik. Eine Gruppe von Umweltaktivisten zieht aus der Großstadt aufs Land, um dort ein rein ökologisch betriebenes Dorf zu errichten, ohne Chemikalien, ohne Autos und vollkommen im Einklang mit der Natur. Nach und nach ziehen sie immer mehr Besucher an, die den Öko-Tourismus abseits von Smog, genmanipulierten Nahrungsmitteln und dem Großstadtleben ausprobieren wollen. Die Dorfbewohner, zunächst recht positiv gegenüber den städtischen „Eindringlingen“ eingestellt – dies wird vor allem durch die zarten Gefühle zwischen dem Dorfoberhaupt und der weiblichen attraktiven Umweltaktivistin dargestellt – entwickeln jedoch bald ein großes Misstrauen. Amüsierten sie sich zunächst lediglich darüber, dass die Städter ihre Esel aufkaufen und sie „wie Bräute schmücken“, fragen sie sich schon bald, aus welchem Grund die Gruppe die Unterstützung und Gelder aus der EU bekommt. Auch sie könnten Geld gebrauchen, um die notwendigen Düngemittel für ihre Felder zu bestellen; dafür könne man, wenn es sein muss, Kommunist oder sogar Satanist werden, wie die Dorfversammlung alsbald feststellt.
Spätestens als klar wird, dass die Dorfregion reiche Kohlevorkommen besitzt und der Bau eines Kohlebergwerkes geplant ist, eskaliert die Situation zwischen Dorfbewohnern und Städtern, denn was die eine Gruppe als Zerstörung der Umwelt sieht, bedeutet für die anderen finanzielle Sicherheit und die Aufwertung ihres Heimatdorfes. So folgt Protest um Protest, bei dem keine Mühen gescheut werden. „Da stirbt man halt ein paar Mal hintereinander, so wie wir es früher auch gemacht haben“, erklärt Roth lachend, als sie auf die Szene zu sprechen kommt, in der die Umweltaktivisten pantomimisch die tödlichen Auswirkungen der Arbeit in den Kohlebergwerken darstellen. Auch der Imam wird bemüht und von den Dorfbewohnern aufgefordert, zeremonielle Gebete während der Proteste zu sprechen.
Für den Zuschauer wandelt sich die gegenseitige Ablehnung in der Dorfregion spätestens dann in künstlerische Ironie um, als die Dorfbewohner mit einem vermeintlichen Gegenprotest an einem von den Umweltaktivisten organisierten Rockkonzert teilnehmen. Wenn E-Gitarre und Saz (türkische Gitarre) aufeinandertreffen, sollte die Moral der Geschichte klar werden: Hier geht es um die Akzeptanz des anderen, darum, dass man nicht gegeneinander, sondern miteinander arbeiten und Lösungen finden sollte.
Im anschließenden Filmgespräch erklärt Aksun, dass der Film für ihn eine Herausforderung war. Mitgespielt haben Laien und echte Schauspieler und gerade für die tatsächlichen Dorfbewohner sei es schwierig gewesen, zwischen Film und Realität zu unterscheiden. Die erste Reaktion der Dorfbewohner sei gewesen, so Aksun: „Wir sind links und spielen den Film nicht.“ Auf die Frage, warum die Umweltaktivisten die Dorfbewohner nicht mitgenommen, ihre Lebensweise erklärt hätten, lacht Aksun und meint, seiner Erfahrung nach seien Bewohner aus ländlichen Gebieten erst von etwas überzeugt, wenn sie es mit eigenen Augen gesehen hätten. Der im Film praktizierte Öko-Tourismus sei im Endeffekt kaum zu der Bevölkerung durchgedrungen, doch dadurch erst entstünden die Reibung und der Konflikt, die den Film schließlich zu einer Komödie gemacht hätten.
Claudia Roth ist in Aksuns Film ungefähr sechs Minuten zu sehen. Als Vertreterin des Bundesministeriums reist sie in das Dorf, um zu überprüfen, ob die EU-Gelder richtig verwendet werden. Übrigens, auch im Film trägt die Politikerin ein hellgrünes, wallendes Kleid. Sie macht ihre Sache gar nicht schlecht, bekommt aus dem Publikum großen Applaus. Doch die Botschaft ist ernsthafter Natur: Schon im Film hebt sie die Wichtigkeit des Naturschutzes hervor, applaudiert und jubelt, als der Vertreter der türkischen Regierung eine Absage an das Kohlebergwerk ausspricht. Deutlicher wird die Politikerin in der Filmdiskussion. Roth erwähnt die Proteste um den Gezi-Park und die aktuellen Konflikte mit der türkischen Regierung. Erdogan, so ist sie der festen Überzeugung, sollte sich diesen Film ansehen, um zu verstehen, um was es wirklich geht: Toleranz, ein Miteinander und, was ihr als Grünen-Politikerin natürlich besonders am Herzen liegt, den Schutz der Umwelt. „Im Film findet eine Ironisierung statt, aber nicht auf eine herablassende oder hämische Weise. Aksun hat es vielmehr geschafft, eine moralische Komponente einzubauen: Die Menschen erkennen sich in Gemeinsamkeiten.“ Gerade eine Polarisierung, wie sie derzeit in der Türkei von Präsident Erdogan betrieben werde, sei schlecht, so Roth.
So wurde es kurz vor Mitternacht neben der ganzen Scherzerei und Schäkerei sogar noch ein bisschen ernst, ob nun aufgrund der bevorstehenden Europawahlen sei einmal dahin gestellt. Fakt ist, dass Aksun mit „Entelköy Efeköy'e Karşı“ einen Film geschaffen hat, der auf eine angenehme Art und Weise zum Denken anregt, ohne mit dem moralischen Zeigefinger zu drohen. Und mit Tarkans „Karatoprak“, dem Soundtrack des Films, im Kopf geht es zurück zur Bahn, gut gelaunt und irgendwie mit dem Wunsch, auch etwas Gutes für die Umwelt zu tun. Vielleicht sollte ich direkt meinen nächsten Urlaub buchen, in einem Ort, wo Öko-Tourismus betrieben wird.
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