1995 erhielt er als 28-Jähriger den Ingeborg-Bachmann-Preis, er wurde ein Jahr nach Max Goldt mit dem Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor ausgezeichnet und schaffte es 2005 erstmals auf die Longlist zum Deutschen Buchpreis. Sein aktueller Roman „Das Floß der Medusa“ gelangte vergangenes Jahr unter die letzten sechs der Shortlist eben dieses Preises und wurde von der Kritik begeistert aufgenommen. Man darf also Schlangen interessierter Besucher vor der Buchhandlung erwarten, wenn der Wiener Autor Franzobel nach Essen kommt. Doch an diesem Donnerstagabend ist es unerwartet ruhig im Umfeld der renommierten Buchhandlung Proust. Nur zwei potentielle Kunden betrachten in der abendlichen Kälte stehend das Schaufenster, im hinteren Bereich der Buchhandlung scheinen die Stuhlreihen leer, reges Treiben sieht anders aus. Gut, es ist erst 19.30 Uhr und die Lesung soll erst um 20 Uhr beginnen – möglicherweise sind wir zu früh. Also raus aus der klirrenden Kälte und rein in die wohlige Wärme – doch die Frage, ob man schon reinkommen könne, lässt den Buchhändler verwundert die Augenbraue heben: „Sie meinen, ob man noch reinkommen kann…“ versucht er meine Frage zu interpretieren. Nun ist es an mir, irritiert zu schauen. „Wir sind wegen der Lesung hier“, versuche ich den Sachverhalt klarzustellen. „Sie meinen diese Lesung?“ – Er deutet auf einen kleinen Stapel Franzobel-Bücher an der Kasse, „die war gestern“.
Während ich krampfhaft versuche, dem zweifellos todbringenden Blick meiner neben mir stehenden Gattin auszuweichen, tritt ein schwärmerisches Glänzen in die Augen des Buchhändlers: „Da haben Sie aber was verpasst! Der Autor hat richtig toll gelesen. Ungeheuer sympathisch und mit Wiener Schmäh, ein wunderbarer Abend – das tut mir jetzt wirklich außerordentlich leid!“
Kann ja mal passieren, dass man sich im Datum irrt. Hätte man vorher nochmal einen Blick in den trailer-Literaturkalender werfen sollen. Wirklich peinlich hingegen ist die Situation, wenn man selbst verantwortlich für den trailer-Literaturkalender ist und diese Lesung auch noch als besonders empfehlenswert hervorgehoben hat – und wenn man nicht zuletzt vor Ort ist, um über die Lesung zu schreiben. Hiervon ahnt Buchhändler Peter Kolling nichts, als er mit aufmunternd gemeinten Worten auf die im Kassenbereich liegenden Bücher deutet: „Aber der Autor hat noch ein paar Bücher signiert – in jedem Exemplar mit einer kleinen Zeichnung – suchen Sie sich eins aus.“ Und in der Tat: Neben der Signatur Franzobels finden sich skizzierte Segelschiffe, grinsende Wale oder ein putziges Seepferdchen. Wer einen Roman, der einen grausamen Überlebenskampf auf hoher See schildert und drastisch von Amputationen und Kannibalismus berichtet, mit solch spielerischen Vignetten ziert, den hätte ich schon gerne live erlebt. Na ja, die Chance ist verpasst. Wir entscheiden uns für das Buch mit der Seepferdchen-Zeichnung, auf das Floß des menschlichen Ausnahmezustands werden wir uns auf der heimischen Couch lesend begeben. Zu einer leckeren Pho beim Vietnamesen ganz in der Nähe erklingen irritierenderweise Wiener Walzerklänge.
Nachtrag: Bei der Buchhandlung Proust sind noch fünf oder sechs der liebevoll signierten Romane zu bekommen. Die Buchhandlung bietet übrigens zu ziemlich jeder Lesung den Service an, signierte Bücher vorzubestellen, ganz einfach über die Homepage – für alle, die sich nicht einfach nur im Datum irren, sondern tatsächlich am Veranstaltungstag verhindert sind. Aber wenn Vladimir Sorokin am 12. April „Pferdesuppe“ auftischt, sollte man sich auf jeden Fall nach Essen begeben.
Franzobel liest aus „Das Floß der Medusa“: http://zehnseiten.de/de/buecher/detail/franzobel-das-floss-der-medusa-605.html
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