Die Blicke im Kinosaal richten sich gemeinhin auf die Leinwand – jene magische, fast sakrale Membran, die uns von der Welt des Filmes trennt. Das diesjährige Blicke-Festival im endstation.kino erweitert den Blick des Filmfreundes: ob begehbares Expanded-Cinema im Stile eines Gruselkabinetts, Diskussionsrunden über die ökonomische Zukunft des Films oder spannende Experimentalfilme, blicke stellt unser Verständnis von Filmkunst auf eine spannende Probe.
Zum Beispiel Daniel Burkhardts „In Other Words“: schwitziges Glas im Tropenhaus, Fliegengitter an denen sich die Sonne bricht, ein von Enten übersähter See – mit seinen stummen Aufnahmen von Flächen regt der 10-Minüter zur Reflexion über jene Fläche an, auf die das Filmkunstwerk just in diesem Augenblick projiziert wird. Das bis in den Kinosaal hörbare Rumpeln auf den nahen Bahnschienen verbindet sich auf magische Weise mit dem Film, der völlig verdient den Preis für experimentelle Kunst und Animation bekam.
Expanded Cinema im völlig beabsichtigten Sinne gibt es im Obergeschoss des endstation.kinos zu entdecken: „Im Zwielicht der Villa Buxley“ heißt eine Rauminstallation der Fachhochschule Dortmund, die bald auch im „U“ zu sehen sein wird. Der Betrachter wird selbst zum Akteur und soll anhand eingespielter Audio- und Filmsequenzen einen Mord aufklären, in einem mit Liebe zum Detail gestalteten Gruselkabinett. Und dann ist da noch „Little Paris“, eine 360°-Videoinstallation des Oberhauseners Volker Köster: In einer knapp zweieinhalbminütigen Sequenz verschmelzen Notre-Dame, Arc de Triomphe und Tour d'Eiffel mal zum kaleidoskopischen Innenraum-Kosmos, mal vogelperspektivisch zum virtuellen Kleinplaneten. Unterlegt mit der magischen „Amélie“-Filmmusik trifft die Hommage an das ‚alte Europa‘ das Herz des Betrachters.
Auch wirtschaftlich prekäre Verhältnisse sind Thema, zum Beispiel in Daniel Heins Portrait „Sonderreiniger, Schriftsteller“ über den Dortmunder Autor Hartmuth Mallorny, der tagsüber U-Bahn-Graffiti entfernt und abends schreibt. Ökonomisch mit dem Rücken zur Wand stehen auch viele Filmemacher – genau darum geht es in der Diskussionsrunde „Wohin geht der Film?“. Ob die Filmschaffenden sich nun „hervorragend in der Selbstausbeutung arrangiert haben“, wie es DSW21-Sprecher Thomas Steffen unglücklich formuliert, sei dahingestellt. Abgesehen von anderen Fettnäppfchen, in denen sich der Unternehmensprecher weniger hervorragend arrangierte („Dortmund hat kein erstklassiges Kino“) ist aber vor allen Dingen eines spannend: Die Dortmunder Verkehrsbetriebe planen offenbar, künftig in Filmförderung zu investieren. Beispielsweise sollen die Screens in den U-Bahnhöfen bald Kurzfilme zeigen – bleibt zu hoffen, dass den Worten Taten folgen.
Anregungen für diese Idee konnte sich der DSW21-Sprecher sicherlich beim blicke-Festival holen: Zum Beispiel der fantasievolle Tanzfilm „Approaching the Puddle“ von Sebastian Gimmel und Homai Toyoda: Der elegante Tanz in Gummistiefeln auf einem pfützenübersähten Hinterhofparkplatz würde auch ohne Ton funktionieren, so grazil sind die Bewegungen der schweigenden Schönheit im Schlechtwetter-Dress.
Neben fantasievollen Experimenten sind dieses Jahr offenbar Familienporträts schwer angesagt: „Aprikosenbäume“ von Irfan Akcadag (Doku-Preis), „Oh Brother“ von Michelle Heipel (action:gender-Preis) und nicht zuletzt Florian Pawliczeks „Ausfahrt Hagen-West“ (Publikumspreis und trailer-Querdenker-Preis) – gleich drei Preisträgerfilme überzeugen durch die respektvolle Zeichnung ihrer Liebsten auf Celluloid.
Für „Ausfahrt Hagen-West“ hat Pawliczek über mehrere Jahre das schräge Alltagsleben seines Vaters aufgezeichnet, zunächst ohne die Absicht, einen Film daraus zu machen. Das Ergebnis ist die filmische Liebeserklärung an den modernen Harlekin, Seifenblasen- und Lebenskünstler, der, wie er von sich selbst sagt, eines am besten kann: Menschen sehr, sehr glücklich machen. Wie wahr.
Einer der spannendsten Beiträge in diesem Jahr ist definitiv „3000“ von Leonel Dietsche (Gewinner des Fiktionspreises): Mittels dokumentarischer Aufnahmen aus Altersheimen, von Techno-Parties und Selbstoptimierung beim Sport, zeichnet der Film ein Bild unserer Gegenwart als „Übergangszeit“ – jeder sucht, niemand findet. Der Clou des kleinen Meisterwerks ist, dass der Film als historische Doku aus Sicht einer vorgestellten Zukunft auf unser Leben blickt. Apokalyptische Endzeitstimmung infiziert so unseren gewohnten Alltag: Nach „3000“ raved es sich anders, und auch der Besuch bei Oma im Altersheim wird sich nun anders anfühlen – ein Film, der die Leinwand verlässt, und uns beim Verlassen des Kinosaals durch unseren Alltag begleitet.
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