Der Himmel ist schwarz und blind – zumindest für Dylan Thomas, seines Zeichens Trinker, Frauen-Antiheld, Schriftsteller und nebenbei Namensgeber für Bob Dylan. Das 1953 verstorbene Enfant Terrible der englischen Literatur ist wieder lebendig geworden, dank der Stimme von Arne Nobel und Karsten Riedels Musik.
Zumindest für diesen Abend im Wassersaal in Bochum-Stiepel: Die chic eingerichteten Katakomben glimmen in blauem Licht und sanftem Kerzenschein, es sieht mehr nach Séance als nach Lesung aus. Aber was Nobels B-Bande bietet, ist sowieso mehr Rauscherfahrung als gewöhnliche Lesung: „Thomas' Texte wirken auch auf anderen Bewusstseinsebenen“, sagt Nobel über den dichtenden Proto-Rockstar. Dem werden die beiden Künstler gerecht – bei ihrer ersten Zusammenarbeit seit der Johnny-Cash-Inszenierung vor acht Jahren und ohne nennenswerte Proben.

Neben Dylan Thomas wurde auch William Shakespeare posthum in die B-Bande aufgenommen: Dessen Sonette vertont Riedel mal als romantischen Love-Song, dann wieder als hysterische Zirkusnummer: Nobel wirft mit Luftschlangen und Konfetti, die Welt ist eitel Kerzenschein. Dann der Bruch: Zwei Liebesbriefe von Dylan Thomas, der eine an seine Frau, der nächste an eine seiner Geliebten: „Ich werde niemals zulassen, dass wir erwachsen werden“, spricht Thomas mit der Stimme von Arne Nobel. Riedel begleitet das mit lieblichen Pianoklängen, Nobel spielt nervös mit seiner Zigarette rum – ist es der Schauspieler, der gerade Schmacht hat, oder der szenisch wiederbelebte Thomas?

„Lass uns für immer jung und verrückt bleiben!“ – Live fast, die young: Lange vor Jim Morrison & Co. lebte Dylan Thomas die Rockstar-Attitüde bis zur letzten Konsequenz. Wer weiß, dass der Autor früh an seinen Exzessen zu Grunde ging, spürt, wie sich die Nackenhaare aufrichten. Aber Nobel und Riedel schwelgen in Thomas' Ekstase: auf einem Instrumental wie von einem „The Doors“-Album singen sie sein Gedicht „Country Heaven“: „Heaven is blind and black“ und die Luftschlangen auf dem Boden verspotten die fröhliche Selbstzerstörung im fahlen Licht der Kerzen. Aber sie fühlt sich so gut an, hört sich so verführerisch an, man möchte nicht runterkommen von diesem Rausch. Komm, noch ein letzter Schluck, auf dass wir immer jung und verrückt bleiben. Und noch ein letzter Schluck, auf den schönen, schwarzen Himmel.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.

Die Liebe und ihre Widersprüche
„Tagebuch einer Trennung“ von Lina Scheynius – Textwelten 11/25
Inmitten des Schweigens
„Aga“ von Agnieszka Lessmann – Literatur 11/25
Mut zum Nein
„Nein ist ein wichtiges Wort“ von Bharti Singh – Vorlesung 10/25
Kindheitserinnerungen
„Geheimnis“ von Monika Helfer und Linus Baumschlager – Vorlesung 10/25
Im Spiegel des Anderen
„Der Junge im Taxi“ von Sylvain Prudhomme – Textwelten 10/25
Die Front zwischen Frauenschenkeln
„Der Sohn und das Schneeflöckchen“ von Vernesa Berbo – Literatur 10/25
Von Ära zu Ära
Biographie einer Metal-Legende: „Sodom – Auf Kohle geboren“ – Literatur 10/25
Kutten, Kohle und Karlsquell
Lesung „Sodom – Auf Kohle geboren“ in Bochum – Literatur 10/25
Alpinismus im Bilderbuch
„Auf in die Berge!“ von Katja Seifert – Vorlesung 09/25
Keine Angst vor Gewittern
„Donnerfee und Blitzfee“ von Han Kang – Vorlesung 09/25
Roman eines Nachgeborenen
„Buch der Gesichter“ von Marko Dinić – Literatur 09/25
Süß und bitter ist das Erwachsenwerden
„Fliegender Wechsel“ von Barbara Trapido – Textwelten 09/25
Geteilte Sorgen
„Lupo, was bedrückt dich?“ von Catherine Rayner – Vorlesung 08/25
Magischer Realismus
Charlotte Brandi liest in Dortmund aus ihrem Debütroman „Fischtage“ – Lesung 08/25
Augen auf Entdeckungsreise
„Jetzt geht’s los!“ von Philip Waechter – Vorlesung 08/25
Düster und sinnlich
„Das hier ist nicht Miami“ von Fernanda Melchor – Textwelten 08/25
Erste Male zwischen den Welten
„Amphibium“ von Tyler Wetherall – Literatur 08/25
Die Kraft der Erinnerung
„Das Geschenk des Elefanten“ von Tanja Wenz – Vorlesung 07/25
Eine wahre Fluchtgeschichte
„Wie ein Foto unser Leben rettete“ von Maya C. Klinger & Isabel Kreitz – Vorlesung 07/25
Zart und kraftvoll zugleich
„Perlen“ von Siân Hughes – Textwelten 07/25
Alternative Realität in Tokyo
„Tokyo Sympathy Tower“ von Rie Qudan – Literatur 07/25
Bis zur Neige
„Der Durst“ von Thomas Dahl – Literatur 06/25
Im Reich der unsichtbaren Freunde
„Solche Freunde“ von Dieter Böge – Vorlesung 06/25
Ein Hund als Erzähler
„Zorro – Anas allerbester Freund“ von Els Pelgrom und Sanne te Loo – Vorlesung 06/25
Flucht ins Metaverse
„Glühfarbe“ von Thea Mantwill – Literatur 06/25