Klassische Konzertsaal-Stimmung in der Tonhalle Düsseldorf: Voll Vorfreude die Karten beim bestens gekleideten Pfortensteher scannen lassen, sich vom freundlichen Personal an seinen Sitzplatz geleiten lassen. Aber halt, vorher noch die Abendgarderobe abgeben. Tut mir Leid, wie unaufmerksam. Wo finde ich Reihe 14? Loge? Vielen Dank.
Unten auf der Bühne singt ein schlaksiger junger Mann zu Klavierbegleitung. Der schlecht sitzende Anzug bleibt nicht das einzige, was an diesem Goldkehlchen irritiert, wie es da mit Innbrunst und Hingabe verkündet: „Mein Gott macht die Menschen selig. Mein Gott hat den längsten Penis!“
Der junge Mann nennt sich Alligatoah und hat vor zwei Jahren Klamauk wieder radiotauglich gemacht; dank der Hitsingle „Willst du“, ein ironischer Abgesang auf hipsterhafte Rotten-Youth-Romantik und Liebeskitsch mit Instagram-Optik. Als Sohn eines Theaterschauspielers zog es den jungen Niedersachsen auch zu den schönen Künsten – seine Wahl fiel allerdings auf Rapmusik.
Jahrelang galt er in der Szene als Geheimtipp: Seine Musik zog Internet-Nerds und Youtube-Stars genau so durch den Kakao wie die großen Religionen, die sich in „Mein Gott hat den Längsten“ zum ironischen Schwanzvergleich treffen. Manchem Kritiker war das zu albern, anderen zu verworren bis kompliziert. Intelligenten Humor und Wortwitz hat ihm zwar niemand abgesprochen, aber dass sich der moderne Hofnarr zum Chartstürmer mausern und in Konzertsälen auftreten wird, damit hat wohl niemand gerechnet.
Den Auftritt in der Düsseldorfer Tonhalle verdankt der Satire-Rapper dem New-Fall-Festival: Seit 2011 holt das Festival Stars der Popmusik an die Spielstätten der Hochkultur. Das Ziel: Kulturkontakt zwischen E- und U-Musik. Letztes Jahr war es der schmusige Singer-Songwriter Maxim, der gemeinsam mit dem Rhein-Brass-Orchester der Robert-Schumann-Hochschule die Tonhalle im Ehrenhof beschallte. Mit Alligatoah wagte das New-Fall diesmal, einen Wolf im Schafspelz auf die Bühne zu schicken.
Mit einem Look wie Omis Liebling bei der Firmung besang er zum Beispiel das ostdeutsche Brachland: „Wo man noch vom Brunnen Wasser holt, tönen aus der Kneipe Hassparolen.“ Hinter dem vermeintlich seichten Klamauk steckt in fast jedem Lied ernst gemeinte Kritik: An fröhlichem Konsum und Umweltzerstörung („Lass liegen“) bis zu religiösem Wahn und hohlen Internet-Hypes. Zu „Prostitution“, dem vermeintlichen Empörungslied über das vermeintlich älteste Gewerbe der Welt, setzte dann das Rhein-Brass-Orchester ein: Mit viel Wucht untermalte es die feierliche Pointe des Songs: „Ach wie gut, dass wir im Glashaus leben.“
Dabei funktionierte der Auftritt auch in der ersten Hälfte schon, als Zwei-Mann-Show aus Alligatoah und seinem Pianisten: Ihre sketchartigen Dialoge zwischen den Stücken hätten als Stand-Up-Comedy auch ganz ohne Musik funktioniert. Das bisschen Mehraufwand war aber nicht zuviel verlangt: „Die Musik wird ja immer schlechter, sagen ja alle“, sagt Alligatoah und freut sich. Denn: „Das macht es für uns Musiker einfacher.“
Von schlechter Musik kann freilich nicht die Rede sein: Wenn Omis Liebling von Nutten, Nazis und Raubkopierern trällert, dann sitzt jeder Reim, ob zu Zweit mit dem Klavier oder einem ganzen Bläserorchester im Nacken, direkt neben dem sprichwörtlichen Schalk. Den hat der HipHop-Hofnarr gewiss nicht an der Garderobe abgegeben. Wie unaufmerksam. Vielen Dank!
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