Einer meiner Facebook-Freunde postet regelmäßig hasserfüllte Triaden, wenn er morgens und abends auf der A40 im Stau steht. Irgendwann kommentierte ich eine seiner Ausbrüche mit dem Satz: „Du bist nicht im Stau, Du bist der Stau!“ Fast hätte ich damit unsere digitale Freundschaft beendet. Und natürlich hat der Freund recht. Jemand, der in Dortmund wohnt und täglich in Essen 12 Stunden arbeiten muss, kann sich den Luxus nicht leisten mit dem Fahrrad oder gar mit der S-Bahn seine An- und Abreise zu bewerkstelligen. Zwar wäre der zeitliche Aufwand vergleichbar, in der S-Bahn wird man jedoch aber zerquetscht und auf dem Fahrrad möglicherweise nass. Der Berufspendler des Ruhrgebiets ist daher in einem schier unauflösbaren Dilemma. Individuelle Lösungen sind selten realistisch. Sachzwänge diktieren die tägliche Stauerfahrung - verbunden mit drohendem Amoklauf.
Gesamtgesellschaftlich hingegen werden gleich mehrere Lösungsmöglichkeiten angeboten. Die Asphalt- und Betonfraktionen gerade in den großen politischen Parteien setzen auf mehr Straße und vor allem breitere Straßen. Schaut man allerdings auf die Randbebauung der Autobahnen im Revier, dann müsste man tausende von Häuser abreißen, oder wie in fernöstlichen Metropolen die Schnellstraßen mehrstöckig konzipieren. Die Luftverschmutzung im Ruhrgebiet würde bei steigendem Verkehrsaufkommen weiter zunehmen und nostalgische Gefühle aufkommen lassen. Auch schaffen es die zuständigen Behörden noch nicht einmal, das bestehende Straßennetz in einem befahrbaren Zustand zu erhalten. Schlagzeilen machte im vergangenen Jahr vor allem die südlich des Ruhrgebietes gelegene Leverkusener Brücke der A1. Nach der Sanierung der 40 Jahre alten Rheinquerung wird Abriss und Neubau folgen. Aber auch viele andere Brücken - in den 70er Jahren ins Land gegossen - machen schlapp. Um die aufwändigen Sanierungen durchzuführen, werden neue Modelle wie die Autobahnmaut für PKW geplant. Ob diese europarechtlich überhaupt durchsetzbar sind und ob diese Art von Steuern auch steuern können in Richtung umweltverträglichem Verkehr, ist zu bezweifeln. Die CSU in Bayern, die vor Wahlen gern gegen parasitäre Autos oder nun auch Migranten aus Südosteuropa Stimmung macht, muss nun zusehen, wie sie ihr Stammtischprojekt „Ausländermaut“ in der realen Politik durchgesetzt bekommt.
Aber auch der umweltbewusste Verkehrspolitiker hat mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Der Appell, auf den Öffentlichen Personennahverkehr oder das Rad umzusteigen, wird von den wenigsten Autofahrern befolgt. Radfahren ist nach wie vor in Großstädten ein lebensgefährliches Abenteuer. Skandinavische Konzepte, Radwege kreuzungsfrei und jenseits der Autopisten anzulegen, um das Fahrrad im innerstädtischen Verkehr wirklich schneller, sicherer und komfortabler zu machen als das Auto, werden sehr zögerlich im Ruhrgebiet in Augenschein genommen. Auch sind die zuständigen Kommunen und der Kommunalverband im Ruhrgebiet nicht mit den Geldern ausgestattet, mit denen ein Bundesverkehrsminister den Autobahnbau alimentieren kann. Und der Zustand von Bussen und Bahnen kann in vielen Fällen mit der Leverkusener Brücke verglichen werden. Die Straßenbahnbetreiber verfügen über einen hoffnungslos überalterten Fuhrpark. Die S-Bahnen und Regionalbahnen verwandeln sich während der Rush-Hour zu überdimensionalen Sardinenbüchsen. Verspätungen sind an der Tagesordnung. Selbst gutwilligen Autofahrern wird so der Umstieg auf ein umweltverträglicheres Verkehrsmittel nicht leicht gemacht. Längerfristig muss und wird sich das Verkehrssystem in unserem Land trotzdem verändern. Die 400 Kilometer Stau, die der WDR an manchen Tagen meldet, sprechen eine deutliche Sprache. So, wie es ist, kann es nicht weiter gehen. Wahrscheinlich werden die Kosten für Mobilität noch stark steigen müssen, bis ein Umdenken breiter Bevölkerungsteile stattfindet.
Die Probleme lassen sich letztlich nur durch Verkehrsvermeidung in den Griff bekommen. Der Verursacher für die Staus ist in der Kühltheke eines Supermarktes zu begutachten. Da wird Schafskäse angeboten, der zwar in Dänemark hergestellt wird, dann aber mit dem LKW erst nach Griechenland und später nach Deutschland gefahren wird, um möglichst hoch subventioniert hier verkauft zu werden. Da stehen Joghurte in zig verschiedenen Geschmacksrichtungen und mit zig verschiedenen Fettanteilen von mehreren verschiedenen Firmen und warten auf den anspruchsvollen Kunden. Dieser kann nun nicht mehr in den Laden um die Ecke gehen, sondern muss in das Kaufparadies vor die Tore der Stadt fahren, weil es nur dort den Mirabellen-Vanille-Bananen-Drink 0,0% der Marke XY gibt. Ähnlich verhält es sich im Freizeitverhalten. Nach der Arbeit fahren wir gern quer durch die Ruhrmetropole, um ein ganz bestimmtes Event zu erhaschen. Dieses moderne Leben schafft viel Verkehr. Natürlich ist der Weg zurück zum Dorf mit Eckkneipe und Tante-Emma-Laden weder praktikabel noch wünschenswert. Aber mithilfe der modernen Informationsgesellschaft könnte doch manche Fahrt vermieden werden. Spätestens, wenn alle gewünschten Produkte aus dem 3D-Drucker kommen, brauchen wir statt Straßen nur noch schnelle Datenautobahnen.
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