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Lena Luig
Foto: privat

„Viele Vergiftungen werden nicht erfasst“

25. November 2020

Inkota-Referentin über Pestizideinsatz im globalen Süden – Teil 1: Interview

trailer: Frau Luig, in Deutschland wird ein Produkt aus dem Verkehr gezogen, im Anschluss gelangt es in Südafrika auf den Markt, obwohl die Risiken bekannt sind. Wie ist das möglich?

Lena Luig: Dieses Problem sehen wir vor allem im Verhältnis dazu, welche Pestizide in der EU verboten sind und trotzdem noch in Ländern des globalen Südens verkauft werden. Wenn Pestizidhersteller ihre Produkte vermarkten, berufen sie sich erst einmal nur darauf, welche Pestizide in dem jeweiligen Land zugelassen sind. Denn jedes Land prüft diese Zulassung grundsätzlich autonom. Die Genehmigung von Pestizidwirkstoffen in der EU und damit auch die Zulassung der Produkte in den Mitgliedstaaten – also auch in Deutschland – ist vergleichsweise streng, was wir natürlich begrüßen. Aus Sicht von Inkota kann es nicht sein, dass hochgefährliche Pestizide nach international anerkannten Kriterien in Ländern des globalen Südens dennoch vermarktet werden.

Von welchen Pestiziden sprechen wir? Welche sind so verheerend?

Es gibt verschiedene Kriterien, wie die Gefährlichkeit von Pestiziden gemessen werden kann. Wir richten uns nach einer Definition des Pestizid-Aktions-Netzwerks (PAN). Das ist eine internationale NGO, die seit Jahren großartige Arbeit zu diesem Thema macht und eine Liste hochgefährlicher Pestizide erstellt, aufbauend auf Kriterien von FAO, der UN-Landwirtschaftsorganisation und WHO, der Weltgesundheitsorganisation. Es handelt sich dabei um eine Liste von insgesamt 300 hochgefährlichen Pestiziden, die wir besonders im Blick haben. Mitunter sind auch bekannte Pestizide wie Glyphosat dabei, aber auch einige, von denen ich selbst den Namen vorher noch nie gehört habe, die aber extrem gefährlich sind.

Die Dunkelziffer für Pestizidvergiftungen ist häufig noch viel höher“

Welche Folgen für Mensch und Umwelt hat der Vertrieb in den betroffenen Ländern?

Es gibt letztlich zwei Ebenen. Auf der gesundheitlichen Ebene kommen immer wieder akute Pestizidvergiftungen vor. Da haben wir z. B. Zahlen aus Brasilien aus dem Jahr 2017, in dem es 7200 Vergiftungen gab. Allerdings ist die Dunkelziffer häufig noch viel höher. Viele Vergiftungen werden gar nicht erst erfasst. Dazu kommt die Ebene der langfristigen Auswirkungen. Ein Mediziner-Team in Argentinien hat hier über viele Jahre hinweg tolle Arbeit geleistet und ermittelt, welche Krankheiten in Anbaugebieten von Gen-Soja, in denen auch besonders viele Pestizide ausgebracht werden, in der Bevölkerung verbreitet sind. Festgestellt haben sie eine stärkere Häufigkeit von Krebserkrankungen, Fehlgeburten und Missbildungen. Insgesamt ist es sehr schwierig, weil wir keine aktuellen globalen Schätzungen zu der Zahl von Pestizidvergiftungen haben. Wir müssen uns da auf Schätzungen aus den 1990er Jahren berufen, weil es leider keine neueren Erhebungen gibt. Doch allein diese Zahlen besagen, dass wir weltweit von 20.000 bis 40.000 Todesfällen durch Pestizide am Arbeitsplatz pro Jahr ausgehen können.

Eine unserer zentralen Forderungen ist, die Problematik deutlich sichtbar zu machen“

Woran liegt es, dass es keine neueren Zahlen gibt?

Die Pestizidindustrie hat überhaupt kein Interesse, solche Zahlen zu erheben, internationale Organisationen allerdings auch zu wenig. Es ist wirklich ein Dilemma. Daher ist auch eine unserer zentralen Forderungen, dass diese Zahlen besser global erhoben werden, um die Problematik deutlich sichtbar zu machen.

Wie darf ich mir eine schwere Pestizidvergiftung vorstellen? Wer ist davon massiv betroffen?

Das kann ganz unterschiedliche Formen annehmen. Inkota hat gemeinsam mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Misereor und Partnerorganisationen in Brasilien und Südafrika im Frühjahr eine Studie herausgebracht, in der wir verschiedene Fälle aus Südafrika und Brasilien dokumentiert haben. In einer indigenen Gemeinde in Brasilien, in der auf dem Nachbarfeld gerade Pestizide versprüht wurden, haben wir gesehen, dass Schulkinder ganz akute Vergiftungssymptome gezeigt haben – von Asthma und Husten über Atemnot, Magenschmerzen und Kopfschmerzen.Wir haben auch einen Fall in Südafrika von einem Traktorfahrer auf einer Zitrusfarm dokumentiert. Er hatte in seinem Traktor eine offene Fahrerkabine. Durch eine Windböe hat er die Pestizide, die ausgebracht wurden, direkt eingeatmet und musste wegen einer akuten Lungenvergiftung monatelang im Krankenhaus behandelt werden. Besonders betroffen von diesen akuten Pestizidvergiftungen sind Arbeiter*innen, die direkt auf Plantagen eingesetzt werden, Bauern und Bäuerinnen, aber auch häufig Anwohner*innen in den umliegenden Dörfern und Gemeinden und auch sowieso schon diskriminierte Gruppen wie indigene Gemeinden.

Die Schutzausrüstung müssen sich die Menschen auch erst einmal kaufen können“

Wieso können sich die Arbeiter*innen nicht effektiv schützen?

Wir sehen ein ganz großes Problem in der unsicheren Anwendung der Pestizide. Pestizidhersteller kommen immer ganz gern mit der Aussage: „Unser Produkt ist sicher, wenn es denn sachgemäß angewandt wird.“ Das ist etwas leichter in der EU, in der es strengere Arbeitsschutzrichtlinien gibt. In vielen Ländern des globalen Südens haben die Zustände nicht nur mit den Arbeitsschutzrichtlinien zu tun, sondern in kleinbäuerlichen Zusammenhängen auch einfach mit Armutskontexten. Denn die Schutzausrüstung müssen sich die Menschen auch erst einmal kaufen können. Darüber hinaus geht es um Fragen wie: Wenn ich als Kleinbauer direkt an dem Feld wohne, kann ich möglicherweise bestimmte Schutzabstände gar nicht erst einhalten. Das ist ein ganz zentraler Punkt, der von den Pestizidherstellern gern ausgeblendet wird. Wenn es um diese ökonomische Basis geht, um diese Armutskontexte, können wir nicht mit einer Garantie von einer sicheren Anwendung von Pestiziden rechnen. Da können noch so viele Schulungen durchgeführt werden.

Kinder sind von schleichenden Vergiftungen stärker betroffen“

Wie wirkt sich die Ausbringung auf die umliegenden Gemeinden aus?

Unsere Partnerorganisation in Brasilien hat Daten zu Pestizidrückständen im Gewässer veröffentlicht, die häufig in den Gemeinden besonders stark sind, in denen pestizidintensive Kulturen angebaut werden. Da findet dann auch eine Vergiftung von den Familien, von Anwohner*innen, statt, die selbst mit der Ausbringung gar nichts zu tun haben.Von diesen schleichenden Vergiftungen sind auch noch mal stärker Kinder betroffen. Das belegen wissenschaftliche Zahlen aus Brasilien. Kinder haben gegenüber diesen Rückständen eine deutlich geringere Toleranz.

Was muss sich in Zukunft verändern? Wie könnten zukünftige Reglementierungen aussehen?

Wir wollen zentral diese Doppelstandards in der Pestizidvermarktung abbauen. Inkota und auch PAN setzen sich gemeinsam dafür ein, dass Pestizide, die in der EU aus Umwelt- und Gesundheitsgründen nicht genehmigt sind, also die wirklich explizit verboten sind, nicht in anderen Ländern vermarktet werden dürfen. In Frankreich gibt es schon ein nationales Exportverbot für genau solche verbotenen Pestizide. Das fordern wir auch von der deutschen Bundesregierung. Und wir fordern, dass so ein Verbot auf EU-Ebene eingeführt wird, dass also aus der gesamten EU solche Stoffe gar nicht erst exportiert werden können. Das wäre der erste Schritt. In diesem Kontext kommt häufig das Argument: „Dann gehen die Konzerne doch nach China und exportieren von dort.“ Deshalb ist die zweite, fast noch wichtigere Ebene, dass wir international langfristig ein Agreement brauchen, das hochgefährliche Pestizide – gemäß FAO und WHO-Kriterien – gar nicht mehr vermarktet werden dürfen.

Es ist wichtig, mithilfe von Protesten und Online-Petitionen Druck auf die Politik auszuüben“

Wie kann unser Konsum von Nahrungsmitteln dazu beitragen, eine Agrarwende anzustoßen?

Eine Agrarwende ist ein großes Feld. Da sind einige Baustellen und man muss an vielen, verschiedenen Punkten gleichermaßen ansetzen. Natürlich kann ich bestimmte Sachen direkt in meinem Alltag umsetzen wie etwa Biolebensmittel einzukaufen, die nicht mit Pestiziden besprüht wurden. Ich würde in diesem Fall jedoch weniger an das korrekte Verhalten von Verbraucher*innen appellieren, sondern an das politische Engagement von Bürger*innen. Ich glaube, es ist einfach wichtig, mithilfe von Protesten und Online-Petitionen Druck auf Regierung und Politik auszuüben, z. B. damit sich die Bundesregierung für ein Exportverbot von in der EU verbotenen Pestiziden ausspricht. Ich bin der festen Überzeugung, dass Konzerne wie Bayer und BASF als Pestizidhersteller oder auch die Agrarlobby hier in der EU eine wahnsinnige Macht haben – wir sehen das hier an der Agrarpolitik. Da helfen individuelle Kaufentscheidungen nur wenig. Wir brauchen letztlich eine gemeinsame politische Bewegung.

An welchem Punkt sind wir aktuell? Wo soll es hingehen?

Auf EU-Ebene gibt es positive Signale. Wir haben zum Beispiel die neue „Farm-to-Fork“-Strategie, zu Deutsch: „vom Hof auf den Tisch“, die stärker als zuvor das Ernährungssystem als Ganzes begreift. Sie setzt relativ strenge Ziele, wie zum Beispiel eine 50-prozentige Reduktion des Pestizideinsatzes auf EU-Ebene. Zu erwähnen ist auch die Biodiversitätsstrategie der EU-Kommission. Aus meiner Perspektive sind das wichtige Meilensteine, an denen wir sehen können, dass sich in den Köpfen der Menschen etwas verändert. Gleichzeitig haben wir diese unglaublich starke Agrarlobby, die mit bestimmten Playern im Parlament verbunden ist, sowohl auf EU- als auch auf deutscher Ebene. In der alltäglichen Arbeit kann diese Tatsache sehr frustrierend sein. Wir als NGO und auch als Bürger*innen, die sich weiter engagieren wollen, sollten uns davon nicht entmutigen lassen und weiterhin versuchen, mit einer Bewegung an diesem Ziel der Agrarwende dran zu bleiben, sei es mit Konzepten Solidarischer Landwirtschaft u. v. m.

Die Bewegung für Agrarökologie erhält vor allem in Ländern des globalen Südens immer mehr Zuspruch“

Gibt es Veränderungen in Ländern des globalen Südens?

In vielen afrikanischen Ländern gibt es inzwischen Verbote für den Einsatz von Glyphosat. Auch in Brasilien war ich sehr erstaunt davon, dass ein Verbot von Paraquat, einem sehr giftigen Unkrautvernichtungsmittel, durchgesetzt werden konnte – trotz der aktuellen Politik und der dortigen Regierung unter Bolsonaro. Sehr positiv bewerte ich, dass die Bewegung für Agrarökologie, also das Gegenmodell zu einer pestizidintensiven Landwirtschaft, vor allem in Ländern des globalen Südens immer mehr Zuspruch und Unterstützung erhält. Da braucht es aus meiner Sicht immer noch mehr Förderung für den Umstieg, auch finanziell, und mehr Forschung, aber da passiert sehr viel.


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Interview: Nina Hensch

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