Als Martin Luther mit Prinzipien wie „sola scriptura“ (nur durch die Schrift) Furore gemacht hatte, war „Frau Luther“ oder „Lutherin“ für seine Frau, Katharina von Bora, eine respektvolle Bezeichnung. „Frau Pastorin“ ist in neuerer Zeit ein anderer Fall und in seiner Botschaft deutlich zweischneidiger: Noch vor nicht allzu langer Zeit hieß so die Gattin des Geistlichen, der so selbstverständlich ein Mann zu sein hatte, wie sie sich über ihn definierte. Zur Frau im Pastorenamt war es ein weiter Weg.
Heute gilt die Frauenordination vielen als typisch für den evangelischen Glauben. Doch besteht sie hierzulande erst seit 1978 per Beschluss der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Eine Sonderrolle für Frauen hatten noch die Debatten im Sinn gehabt, die ein Vierteljahrhundert zuvor für ein „Amt sui generis“, also eigener Art plädierten; Predigen oder die Verwaltung der Sakramente entsprachen demnach nicht dem „Wesen der Frau“.
Doch gestrig? Inkonsequent? Verweigerter Fortschritt? Wer heute, gerade als Kirchenferner, vorschnell so urteilt, verwechselt wohl reformatorisches Denken mit weltlich-reformerischem. Sicher wollten Luther, Calvin und Co. Fortschritt im Geist von Gottes Wort – aber nicht zwingend in dem Sinne, mit dem Fortgang der Gesellschaft Schritt zu halten. Wahrscheinlich gilt das übrigens für jede Religion, und für Nichtgläubige ist es mitunter schwer nachzuvollziehen: Neben menschlichen Bedürfnissen sieht sie sich anderen, höheren Geboten verpflichtet. Theologische Bedenken wischt weder die Zeit so schnell beiseite noch neue gesellschaftliche Einsichten.
Aber der Geist ist willig, das Fleisch ist schwach – das kennt man überall und beim Religiösen nicht nur in der Sexualmoral. Auf die Bibelauslegung bezogen: Sollte denn nicht auch bei der ach so objektiven Schriftorientierung gelten, dass Menschen zuweilen irrationale, eigennützige Wesen sind? Und auch im Urteilen selbstbezogen statt hirngesteuert? Es wäre wohl arg treuherzig zu glauben, fromme Deuter begäben sich grundsätzlich neutral und frei von Affekten ans Exegetenpult. Mensch bleibt doch Mensch, und auch der aufrichtigste Mönch oder Forscher, so will man vermuten, kann im Zweifel nicht aus seiner Haut. Das mag ein wenig ähnlich sein wie bei der Frauenquote: Es wäre ja schön, wenn männliche Entscheidungsträger (etwa in der Arbeitswelt) unbeeindruckt wären vom Testosteron und daher gar kein Korrektiv via Quote bräuchten. Klappt bloß nicht, allzu oft. Und klar gibt es aufrichtiges Bemühen, sich heiligen Worten ergebnisoffen zu nähern – Garant für „objektiv“ sein wird das jedoch kaum.
Sicher scheint: Auch das robuste „Nur durch die Schrift!“ ist keine einfache Formel. Wie sonst könnten die Resultate so unterschiedlich sein? Auch zum Thema Frauenordination finden sich schließlich widerstreitende und vielschichtige Positionen, obwohl sie sich sämtlich aufs selbe Buch berufen. Als die lettische Kirche 2016 die Frauenordination schlichtweg abschaffte, gab es Applaus von Ulrich Rüß, Präsident der Internationalen Konferenz Bekennender Gemeinschaften: Die Synode habe „dem enormen Druck des Zeitgeistes und der Genderideologie“ widerstanden. Unter den Gegenstimmen dazu findet sich der offene Brief eines Pastors an den „lieben Bruder Ulrich“: Philipp Kurowski begründete seine Ablehnung des lettischen Schritts, sein Ja zum Frauenamt also, mit dem Wirken des Heiligen Geistes – ausgerechnet nach der Einleitung, er sei „höchst skeptisch“ gegenüber dem Gendern. „Gegen den Wortlaut der Schrift zu denken“, sah er unter Umständen als regelrecht geboten. Er betonte: „Ich lasse mich also nicht vom Zeitgeist treiben“ und schloss, „dass Geist lebendig macht und Buchstabe tötet, dass Glaube entscheidet und nicht Geschlecht“. Eine Schrift – zwei Urteile.
Im fiktiven Monolog „Bist du sicher, Martinus?“ legt die Schriftstellerin Christine Brückner der Lutherin, Katharina von Bora, auch diese Worte in den Mund: „Es ist schwer genug, dich immer zu lieben und zu ertragen. (…) Ich versuche, ein Gott wohlgefälliges Leben zu führen, aber manchmal scheint mir das leichter, als ein dir wohlgefälliges Leben zu führen“. Heute fragen wir uns, ob ihr grimmiger Gatte letztendlich zu neuen Rollen der Frau einiges beitragen könnte. Aber auch ein Reformator kann nicht aus seiner Haut – und wer weiß schon, was richtig ist, was zeitgemäß und was persönliches Temperament.
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