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Christofer Rott a.k.a. Captain Latin
Foto: Michelle Heinzberger

Schweineblut und einsame Lateinstudenten

03. Juni 2016

Treibgut präsentiert spannungsvollen Slam- und Lesungsabend im RUB-KulturCafé – Literatur 06/16

Der Wettergott scheint ganz im Sinne der zahlreich anwesenden Metal-Fans unter den rund 60 Gästen zu handeln: Mit einem Grollen, das im ähnlich klingenden Begrüßungsschrei des Moderatoren-Duos Felicitas Friedrich und Marek Firlej beinahe untergeht, wird die Veranstaltung an diesem gewittrigen Mittwochabend lautstark eröffnet. Die Bandbreite der Lesung erstreckt sich von Pädagogen-Satire über Rock- und Slam-Poetry bis hin zu literarischer Endzeit-Vision und stellt damit die Flexibilität des Publikums auf die Probe.

Den Anfang macht Tobias Keller, Deutsch- und Pädagogikstudent an der RUB, der Kostproben aus seinem Debütroman „Morgens leerer, abends voller” (dtv 2016) mitbringt. Ein Lehrer, der sowohl an seinen unmotivierten Schülern als auch seiner vegan lebenden Freundin samt übergewichtigem Kater zu verzweifeln droht, erzählt von Restaurant-Besuchen, bei denen sogar „die Kühe auf dem Teller hilflos mit den Schultern zucken“ – womit er ein wenig das Publikum polarisiert. Mehr Anklang findet der Bericht vom Versuch eines Lehrerkollegen, ein eigenes Raplied aufzunehmen, nachdem das Experiment grandios gescheitert ist, anhand von Songs der Rapper Bushido und Haftbefehl Grammatik zu analysieren… Mittlerweile arbeitet Tobi Keller an seinem zweiten Buch, das im Sommer 2017 erscheinen soll. In „Kommando Rheinfall” wird es um wahre Freundschaft, die Liebe zur Heimatstadt und einmal mehr um Beziehungsprobleme von Männern gehen.

Anschließend stellt Treibgut-Autorin Caroline Königs ihr 2015 im neugegründeten Ruhrliteratur-Verlag erschienenes Buch „Die verlorene Räson” vor und bringt zusammen mit Sirka Elfert einen Auszug aus ihren am 9. und 10. Juni im Musischen Zentrum der RUB zu sehenden Theaterstücken „Haut I & II” auf die Bühne. Ihr Buch beginnt mit der Geschichte eines „aus Neid um den guten Liegeplatz“ zwischen zwei Müllcontainern von Seinesgleichen ermordeten Obdachlosen. Sie mündet in das apokalyptische Szenario eines Weltkriegs global agierender Fastfood-Konzerne. Auch Außerirdische sowie die Jugendliebe des Protagonisten spielen eine Rolle in Caroline Königs facettenreichem dystopischen Roman.

Als dritter Act tritt ein blonder, etwas unscheinbar wirkender junger Mann auf die Bühne. Doch Christofer mit F, der in seinem gleichnamigen Slam-Text passenderweise das alter ego „Captain Latin” prägt, begeistert sein Publikum, indem er von den Leiden eines Lateinstudenten erzählt: Gewitzt berichtet er von einsamen bartlosen Brillenträgern, an deren Heldenhaftigkeit er keinen Zweifel lässt. Besonders verbunden fühlt er sich mit merkwürdig auszusprechenden Arzneimitteln und Teufeln in Horrorfilmen, deren lateinische Drohungen  er gekonnt nachahmt. Sympathisch: Beinahe verschämt lässt er sich kurz durch das zustimmende Klatschen und Jubeln des Publikums unterbrechen, bevor er schließlich im gerappten Slam-Duktus fortfährt. Zweifellos markiert Christofer Rott, der am 30. September im Kleinen Theater Herne erstmals mit einem Solo-Programm auftreten wird, einen Höhepunkt des Abends.

Marek Firlej, Treibgut-Moderator mit markanter, teils rot gefärbter Haartracht, leitet darauf von Captain Latin zu Captain Metal über: Micha-El Goehre, dessen Äußeres schnell verdeutlicht, wie richtig der Moderator damit liegt, entführt die Zuhörerschaft in die Welt eines Heavy-Metal-Fans. Seine langen Haare bedecken den einzigen (weißen) Farbtupfer seiner sonst typisch schwarzen Kleidung. Mit einer Vision über sein späteres Vatersein beginnend, weckt er sicherlich nicht nur die umliegende Nachbarschaft: „Morgen früh, WENN SATAN WILL, wirst du wieder geweckt!” Ebenso seien Frauen in der Metal-Szene eher speziell angehaucht, schöben ihr kaputtes Auto lieber selbst nach Hause, um es dort auch eigenständig zu reparieren. Mit Hackebeil im Bus zur nächsten Schlachterei, beim Abendessen Rotwein nur, wenn es kein Schweineblut für die satanische Messe mehr gebe. All diese Klischees illustriert er lesend, frei vortragend und zuweilen auch singend und warnt vor bürgerlichem Missbrauch des Schwermetall-Liedguts etwa zu pädagogischen Zwecken in Kindergärten – denn: „'Breaking the Law' und 'Smoke on the Water' sind unerträglich, wenn sie auf Blockflöte und Xylophon gespielt werden.“

Treibgut-Mitglied Calvin Kleemann, dessen blond gefärbtes Haar aus seiner ebenfalls dunklen Kleidung hervorsticht, behandelt in seinen zu „Wortkonzerten“ kompilierten lyrischen Texten die Probleme der Gegenwartsgesellschaft. Über Realitätsverlust durch soziale Netzwerke über Schönheitswahn und Videospiele endet er mit dem beeindruckend authentisch vorgetragenen Gedicht „Sepiawelten“ aus seinem dritten Lyrikband „Die graue Flut“: „Die Welt war so bunt, doch hat das Leben jede Farbe verschluckt.” Am Sonntag, den 17. Juli, wird Calvin Kleemann ab 19.00 Uhr beim Festival Bochum Total auf der Trailer-Wortschatzbühne auftreten.

Auf der Offenen Bühne schließt Kai Bernhardt mit seinem Text „Rückkehr der lebenden Toten aus den Stollen der Vergangenheit“ daran an – wobei er sich sicher ist, dass Wiedergänger zuweilen menschlicher als Menschen und diese nicht selten wie Zombies erscheinen. Kai Bernhardt, der unter dem Titel „Zombies – es leben die Toten“ auch bereits ein Theaterstück am Musischen Zentrum der RUB inszeniert hat, bezieht das zentrale Motiv von „Zechenzombies“ in seinem Essay auf eine (spätestens seit der Kulturhauptstadt Ruhr.2010 wieder in Mode gekommene) Glorifizierung der regionalen Geschichte: „Fördertürme stehen im Ruhrgebiet wie Grabsteine“, resümiert Bernhardt – denn: „Aus Angst vor der Zukunft klammern sich Menschen an Fehler aus der Vergangenheit.“

Erst kurz vor Beginn der Veranstaltung als letzte Vortragende für die Open Stage gemeldet hat sich Melody R. Martinez. In ihren Texten geht es um Selbstreflexion und die Frage nach der eigenen Verrücktheit, die sie abschließend lächelnd mit einem klaren „Ja” beantwortet... Nach Zugaben von Tobi Keller und Micha-El Goehre, der zum krönenden Abschluss gemeinsam mit „Captain Latin” Christofer Rott auftritt, endet der offizielle Teil und geht nahtlos in einen gemütlichen Austausch bei Bier und anderen Kaltgetränken über. Akteure und Publikum haben die Probe eindeutig bestanden!

 

 

Dieser Beitrag ist im Zusammenhang mit dem von Dr. Ulrich Schröder am Germanistischen Institut der Ruhr-Universität Bochum im Sommersemester 2016 geleiteten Hauptseminar 'Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus' entstanden.

MICHELLE HEINZBERGER

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