Heute kennt sie kaum noch wer. Ilse Kibgis war Verkäuferin, Fabrikarbeiterin, Putzfrau, Kassiererin, Serviererin, „Hausfrau“ und Lyrikerin. „Pommesfrau“ heißt eines ihrer Gedichte. Wie sie darin den trostlosen, entfremdeten Arbeitsalltag beschreibt, das könnte heute noch auf den Takt der neoliberalen Dienstleistungsgesellschaft zutreffen. „Manchmal zwischen zwei Handgriffen blickt sie in Gesichter wie in fremde Welten“, schreibt Kibgis über die Frau hinter der Imbisstheke. Schreiben, um jene Lebenswelt zu beschreiben, zu fassen, aufzubrechen, die als grau, als beengend und hoffnungslos empfunden wird. So beschrieb die Mutter eines Sohnes in einer ihrer wenigen Interviews ihre literarische Tätigkeit, die sie zwischen Haushaltsarbeit und Nebenjobbeschäftigungen betrieb. Doch die in einer Bergarbeiterfamilie in Gelsenkirchen-Horst aufgewachsene Kibgis ist nicht die einzige LyrikerIn aus dem Ruhrgebiet, die in Vergessenheit geraten ist.
Germanistik-Studierende der Ruhr-Universität wollten daran etwas ändern. Herausgekommen ist die Broschüre „Lyrik im Ruhrgebiet“. In 13 Essays geht es um AutorInnen wie Heinrich Kämpchen, Philipp Witkop oder Georg Breuker.
„Unerwartet und sperrig“, nennt Joachim Wittkowski, der die Herstellung der Broschüre begleitete und durch den Abend moderierte, das Thema „Lyrik im Ruhrgebiet“. Gleichwohl verrät der Germanistik-Dozent der RUB, dass es neben den beliebten Poetry Slams noch immer viele LyrikerInnen in der einstigen Montan- und Industrieregion gibt.
Mit Heinrich Peuckmann, Volker W. Degener und Tobias Bäcker waren auch einige Vertreter zu Gast, um an diesem Abend im gut besuchten Veranstaltungssaal der Martin-Opitz-Bibliothek in Herne aus ihren Gedichten vorzulesen. Dort räumten sie auch mit dem Klischee auf, dass sich die Ruhrgebiets-Lyrik nur auf die Literatur der Arbeitswelt um AutorInnen wie Max von der Grün, Erika Runge oder Christian Geissler beschränken lasse. Trotzdem positionieren sie sich heute in den Zeilen auch politisch. So geht es etwa in Tobias Bäckers Gedicht „Europa 20XX“ um Transitzonen, Flucht und vermeintlichen Frieden.
Der Kamener Heinrich Peuckmann hält in seinen Zeilen die Erinnerung an die Verfolgung von JüdInnen oder Oppositionellen im Nationalsozialismus aufrecht. Oder die Lebenswelt einer Bergarbeiterfamilie, wenn sein lyrisches Ich beschreibt, wie sehr die Maloche unter Tage den Vater gezeichnet hat: „Ein tief erschöpfter Mann, für den die Arbeit unter Tage viel zu hart war.“
Aber auch die von den Studierenden verfassten Essays, die an diesem Abend präsentiert wurden, sind keine trockenen Analysen. Die RUB-Studentin Kathrin Ostraga fragt etwa in ihrem Beitrag nach den Hintergründen des Steigerliedes, das „Wiegenlied des Ruhrgebiets“, wie sie die bekannten Verse bezeichnet. Denn in den verschiedenen Stadien entlang der Ruhr hat das Steigerlied längst Hymnencharakter und wird von vielen Menschen mitgesungen. Was wenige wissen: Die Entstehung dieses Bergbauliedes geht bis auf das 16. Jahrhundert zurück. Zu solchen und andere Entdeckungen lädt ab sofort die Broschüre „Lyrik im Ruhrgebiet“ ein. Auf dass diese Vers-Schätze nicht in Vergessenheit geraten.
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