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Sepp Hiekisch-Picard
Foto: Archiv Kunstmuseum Bochum

„Er war fürchterlich enttäuscht von Picasso“

01. September 2021

Sepp Hiekisch-Picard über die Ausstellung zu Anselme Boix-Vives – Sammlung 09/21

Das Museum Bochum zeigt einen der anerkanntesten Vertreter der Art Brut. Anselme Boix-Vives wanderte 1917 als mittelloser Hirtenjunge, der nie eine Schule besuchen konnte, aus Spanien nach Frankreich aus. Wir sprechen mit dem Kurator und stellvertretenden Museumsdirektor Sepp Hiekisch-Picard.

trailer: Herr Hiekisch-Picard, gut zwei Jahrzehnte nach dem „Museum der Teufel und Engel“ zeigt das Museum Bochum jetzt einen ehemaligen Hirtenjungen, der den weltweiten Frieden mit Bildern erzwingen wollte?

Sepp Hiekisch-Picard: Das Kunstmuseum Bochum hat eine lange Tradition in der Auseinandersetzung mit Art Brut, mit der sogenannten Kunst Geisteskranker, wie das im Buch von Hans Prinzhorn 1922 formuliert worden ist. Wir haben mit der Sammlung Prinzhorn, dem Haus der Künstler in Gugginggearbeitet und zusammen mit dem Psychiater Leo Navratil Ausstellungen gemacht. Da gibt es Namen wie August Walla oder Adolf Wölfli, die Wiener Schule mit Rudolf Hausner war da, die Prinzhorn-Sammlung haben wir auf Haus Kemnade gezeigt, aber auch die imaginativen Künstler wie Fred Deux oder Woldemar Winkler. Anselme Boix-Vives kannte ich aus verschiedenen Ausstellungen in Paris, habe viele seiner Werke gesehen und wollte ihn in Bochum zeigen. Über die Enkel von Anselme Boix-Vives haben wir dann Kontakt aufgenommen und plötzlich ergab sich eine sehr schöne Ausstellung. So kommt der ehemalige Hirtenjunge ins Museum Bochum.

„Er war keine gesellschaftliche Randexistenz“

Was ist der besondere Reiz einer Ausstellung gesellschaftlicher Randexistenzen, auf die die Umgebung fast immer und ich behaupte, auch immer noch mit Unverständnis reagiert?

Im Falle von Boix-Vives kann man das so nicht sagen, er war keine gesellschaftliche Randexistenz. Er war ein sehr erfolgreicher Gemüsehändler, er hatte sich zur Ruhe gesetzt und das Geschäft seinem Sohn übergeben und hat dann auf Anregung seines Sohnes Michel angefangen sich mit Farbe, mit Malerei zu beschäftigen. Ganz spontan, aber er hat das dann auf eine sehr obsessive Art getan. Ich glaube – und deshalb heißt die Ausstellung auch „Anselme Boix-Vives: Malerei für den Frieden“ – dass er damit auch etwas bewirken wollte, nämlich eine harmonische, fröhliche, optimistisch gestimmte Welt darzustellen. Er hatte erst so einen Weltfriedensplan entwickelt, Frieden durch Arbeit hieß seine These, und er hat dieses Manifest schreiben lassen mit Hilfe eines Lehrerehepaars und an mehrere Politiker geschickt, an den Papst, an das Nobelpreiskomitee – und war frustriert, dass er keine Reaktion bekam. So entwickelte sich eben seine Malerei. Die dann sehr schnell ein Publikum und beileibe kein kleines Publikum gefunden hat.

Mehrere tausend Gemälde in sieben Jahren – Bochum zeigt aber schwerpunktmäßig zeichnerische Werke?

Eigentlich sind fast alle seine Werke auf Papier entstanden, teilweise mit Farbstiften gemalt, mit Öl, Gouache,auch Lackfarben. Der Kern der Ausstellung ist im Grunde das, was die beiden Enkelkinder besitzen. Es sind die Kinder des Malers Michel Boix-Vives, der die Ausstellung begleitet hat. Sie haben zusammen eine sehr schöne Kollektion und sie haben eben auch viele Skizzenbücher, wo man die ersten Eindrücke sieht, wie der Großvater zu seinen Bildideen gefunden hat. Wir stellen schon Gemälde aus, aber auch viele kleinere Arbeiten.

Menschliche Figuren, die er Mondbewohner nennt“

Gibt es ein visuelles, kreatives Alleinstellungsmerkmal bei ihm?

Es gibt immer sehr kindlich gehaltene menschliche Figuren, die er Mondbewohner nennt. Es gibt sehr viele Tiere, Bäume, Sträucher, all das, was so seine Umwelt ausmachte. Man sieht einen direkten Farbauftrag, mit sehr vielen Pinselschlägen, so setzt er seine Bilder zusammen. Es lässt sich auch ein gewisser Horror Vacui – ein Hang zum Auffüllen eines leeren Raumes – feststellen. Da gibt es eine schöne Anekdote als er hat mal in Paris mit der Familie in einer Picasso-Ausstellung war. Er war fürchterlich enttäuscht von Picasso. Er meinte, dass er so viel Leinwand freistehen ließe, das wäre total verschenkt. Er hat seine Bilder immer zugemalt.

Haben Anselme Boix-Vives´ Bilder weniger von dem Manischen als die der anderen Art Brut-Künstler aus den Anstalten?

Das Manische hat er nicht. Und er ist auch sehr früh als Künstler neben andere Künstler gestellt worden. Zum Beispiel hat Harald Szeemann seine erste Museumsausstellung 1964 in der Kunsthalle Bern gemacht und er hat ihn dort mit Louise Nevelson und mit Hundertwasser zusammen gezeigt. Der Maler Corneille hat ihn dann nach New York gebracht. Er ist in der Kunstszene angekommen gewesen. Deswegen hat Jean Dubuffet ihn auch nicht in seine Art Brut-Sammlung aufgenommen. Er war ihm zu erfolgreich.

Ist es immer noch so dass Dubuffet den Art Brut-Begriff erfunden haben will und er eine Art Copyright darauf hat?

Das legt sich langsam. Man spricht in der anglofonen Szene lieber von Outsider Art. Im Deutschen haben wir keinen eigenen Begriff dafür. Es war schon bei derTeufel-und-Engel-Ausstellung wichtig, dass esnicht nur diese manisch getriebenen, oft schizophren erkrankten Künstlerinnen und Künstler gibt, sondern dass es auch diese Bastler gibt. Ich habe die damals Traumbastler genannt. Boix-Vives wäre so ein Traummaler. Der ist nicht so getrieben, dass er nicht anders könnte, dem hat es unheimlich Spaß gemacht und so wie er sein Gemüse verkauft hat, hat er, als er 63 war, angefangen, seine Bilder zu produzieren. Für Dubuffet war dieses „in der Randgruppen-Existenz bleiben“ enorm wichtig.

Unter den Künstlern des Art Brut gibt es extrem wenig Frauen, woran liegt das wohl?

Es gibt auch Frauen in der Art Brut, die aber auch wie akademisch geschulte Künstlerinnen im Kunstbetrieb oft nicht so hochgekommen sind.

Anselme Boix-Vives, Foto: © Archives Boix-Vives, Grenoble

Inzwischen hat die Art Brut längst den internationalen Kunstmarkt erreicht, Künstler etwa aus der Sammlung Prinzhorn erreichen Spitzenpreise. Wertet so eine Museumsausstellung auch die Bilder von Anselme Boix-Vives auf?

Sofern das noch nötig ist, ja. Es gibt zu Boix-Vives ein zweibändiges, acht Kilo schweres Werkverzeichnis. Es gibt außerhalb Deutschlands schon einige Museumsausstellungen. Das Sondermerkmal unserer Ausstellung ist, dass es die erste Einzelausstellung in Deutschland ist. Natürlich wertet so etwas auf, aber das tut es bei anderen Künstlern ja auch.

Das freut die Enkel.

Beide Enkel sind künstlerisch tätig.Philippe Boix-Vives ist Musiker und hat ein Werk „Das Spinnrad“ komponiert, das auch ein Bildtitelvon seinem Großvaterist, den er gerade noch kennengelernt hat. Julia Boix-Vives lebt in Holland und ist eine Performance- und Videokünstlerin. Sie wird zur Ausstellungseröffnung eine Performance hier im Museum aufführen, wo sie einen spirituellen Kontakt zu ihrem Großvater aufnimmt, den sie altersbedingt nie kennenlernen konnte. Alles dreht sich dabei um ein Thema, das sie „die Pfeife rauchende Frau“ nennt, auch das ist so ein Spezialmotiv in seinem Werk des Großvaters, das immer wieder auftaucht. 

Anselme Boix-Vives – Malerei für den Frieden | 5.9. - 7.11. | Museum Bochum | 0234 910 42 30

INTERVIEW: PETER ORTMANN

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