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Die Schauspielerin und Regisseurin Günfer Cölgecen las am 10.11. in der Essener Zentralbibliothek
Fotos: Barbara Slotta

Momentaufnahmen der Monotonie

13. November 2017

Lesung „Über Richtungslosigkeit“ von Literatürk und Richtungsding in der Zentralbibliothek Essen – Literatur 11/17

Ein 13. Geburtstag im Leben eines Menschen lässt vermuten, dass der Großteil des zu Erlebenden noch in der Zukunft liegt: Die Kindheit ist vorbei und jetzt erst geht es so richtig los. Für ein Literatur-Festival hingegen ist ein 13. Geburtstag ein Statement. Ein Statement für Anerkennung, Erfolg, aber auch für Notwendigkeit – ein Statement, welches dieser Tage in Essen zu erleben ist.

Bereits seit dem 6.11. feiert das internationale Literatürk-Festival hier seinen 13. Geburtstag. Seit mindestens genau so vielen Jahren führt das Team um Semra Uzun-Önder, Fatma Uzun und Johannes Brackmann vom Kulturzentrum Grend namhafte Schriftsteller aus der ganzen Welt mit der Kultur- und Literaturlandschaft des Ruhrgebiets zusammen. Dabei hat sich der Fokus des Festivals mit der Zeit ausgedehnt: Zunächst ein Festival für, von, mit und über die literarische Szene der Türkei, haben die Jahre und die Begegnungen von Lesenden, Schreibenden und dem Essener Publikum zu einer immer weiter wachsenden Vielfalt im Programm von Literatürk beigetragen. Dementsprechend abwechslungsreich liest sich dieses im dreizehnten Jahr: Abende mit Can Dündar und Orhan Pamuk finden sich hier neben Lesungen von Maria Schrader, Nina George oder Ilija Trojanow.

Und so gelingt dem Essener Festival etwas ganz Erstaunliches: In einer Zeit, in der die Grenzen der Welt immer deutlicher zu werden scheinen, verschwimmen sie hier; während Staaten immer mehr auf das ihnen Eigene pochen, zählt bei Literatürk das Gemeinsame; Herkunft spielt insofern und nur dann eine Rolle, wenn sie auch literarisch thematisiert wird. Dabei machen allein das Verständnis sowie die Bandbreite des diesjährigen Themas – Macht und Ohnmacht – deutlich, dass den Menschen viel mehr gemeinsam ist als sie zu trennen vermag. Das mag unter anderem daran liegen, dass diese beiden Begriffe bei Weitem vielschichtiger und verbreiteter sind als es auf den ersten Blick zu vermuten ist.

Denn es fällt leicht, im Kontext von Literatürk, den eingeladenen türkischen Stars der Literaturszene und jenem doch starken Motto einen Verweis auf die gegenwärtige politische Situation der Türkei zu lesen. Dennoch wird im Programm schnell deutlich, dass es sich hier nicht allein um politische Macht – und Ohnmacht – handelt, auch nicht nur um Flucht und Flüchtlinge. Und so ist eine große Überraschung, dass die Veranstaltung „Über Richtungslosigkeit. Ein Abend über erzwungene Bewegungen“ in der Essener Zentralbibliothek das Thema Flucht zumindest vordergründig ausklammert.

Gemeinsam mit der Literaturzeitschrift Richtungsding haben die Veranstalter drei Autoren eingeladen, die zum Teil mehrmals mit eigenen Texten im Richtungsding vertreten waren und die darüber hinaus seit Jahren im Kulturbetrieb des Ruhrgebiets tätig sind: Dass Jasamin Ulfat, Fabian Wolbring und Günfer Cölgecen sich bei der Literaturzeitschrift und ihrem Herausgeber Jan-Paul Laarmann wohl fühlen, ist schnell spürbar, immerhin erhält der Abend durch die Nähe und Vertrautheit von Autoren und Laarmann eine bemerkenswerte Familiarität.

Jan-Paul Laarmann (links) diskutierte mit Fabian Wolbring über mögliche neue Themen im Richtungsding

Dabei ist es das erste Mal, dass Richtungsding eine zusätzliche Plattform bei Literatürk erhält; 2010 gegründet, erscheint die Zeitschrift für junge Gegenwartsliteratur im Ruhrgebiet halbjährlich, die veröffentlichten Texte finden erst im Zuge einer Ausschreibung und im Rahmen eines bestimmten Themas ihren Weg in die Redaktion und schließlich ins Heft. Das letzte Wort hat jedoch das Publikum – beim großen Wettlesen in der Zeche Carl, welches ein Mal im Jahr statt findet. Hier wird der große Richtungsding-Literaturpreis vergeben und mit Fabian Wolbring liest gleich ein mehrfach ausgezeichneter Richtungsding-Preisträger an diesem Abend in der Essener Zentralbibliothek.

Sein Text zum Thema Rakete ist denkbar kafkaesk und handelt von Rätseln, Begegnungen und Offenbarungen, die sich gleichermaßen im Spannungsfeld von Macht und Ohnmacht verorten lassen. So unvorhersehbar wie das Ende seiner Geschichte, ist die Geschichte selbst, die für alle – außer Wolbring – richtungslos verläuft bis schließlich die Diskussion zwischen Laarmann und Wolbring den Zuhörer aufhorchen lässt. Ging es hier um das triste Dasein eines Wissenschaftlers? War das Gefangensein im immer gleichen Alltag eine Parabel für die Ohnmacht, die uns alle beizeiten befällt und deren einzige, scheinbar passende Antwort Prokrastination ist? Waren besagte Post-Its und das stete Klacken des Teleskops nur Beweise für die Verwaltung eines Alltags, der sich einzig durch seine Monotonie bedingt? 

Auch wenn Wolbring und Laarmann im gemeinsamen Gespräch den einen oder anderen Schlüsselbegriff fallen lassen, liegt die Aufgabe der Interpretation – genauso wie das Meistern des eigenen Alltags – noch immer beim Publikum selbst, das sich nach dem Text des zweifachen Richtungsding-Preisträgers geradezu gelähmt zeigt von der Macht der Wörter. 

Auch Jasamin Ulfats Text handelt von der Gefahr der Ohnmacht durch Monotonie. Schauplatz dafür ist eine langsam dahin sterbende Kleinstadt, deren immer langsamer werdende – oder schon immer langsamen – Bewohner nur noch hier sind, weil sie entweder nicht rechtzeitig den Sprung nach Berlin, Hamburg und Düsseldorf geschafft haben – oder weil sie dafür insgesamt zu langsam sind. Innerlich gehemmt, eigene Schritte zu gehen, ist es leichter, das zu akzeptieren, was ist und denen, die gegangen sind, hinterherzutrauern als tatsächlich der eigenen Unmündigkeit zu entkommen. Eindrucksvoll und mit einer sehr klaren Sprache gelingt es Ulfat, die Momentaufnahme eines erlahmenden Mikrokosmos zu skizzieren, der zugleich trostlos und vertraut scheint.

Momentaufnahmen sind es auch, die die Schauspielerin und Regisseurin Cölgecen vorträgt; niemals erklärend, dafür mit einer Wortgewalt, die nach Wolbrings kafkaesker Raketenfahrt und Ulfats Kleinstadtstudie grob und plötzlich daher kommt, sind ihre Kurzgeschichten geprägt von Gewalt, Angst und den Geheimnissen ihrer Protagonisten. Das Thema des Festivals spiegelt sich hier in einer geradezu poetischen Paraphrasis: Macht durch Ohnmacht, Ohnmacht durch Macht. Mal am Klavier von der Sängerin Elina Laivera begleitet, mal konzentriert vortragend, merkt man Cölgecen die Theatererfahrung sichtlich an. So plötzlich wie sie jedoch mit einem Mal auf der kleinen Bühne saß, so plötzlich ist der Abend dann auch vorbei, Elina Laivera stimmt zu einem letzten Lied an und langsam leert sich die Zentralbibliothek.

Es verwundert, wie viele verschiedene Welten in diesen eineinhalb Stunden hier und heute bereist wurden. Dass Worte in der Lage sind, Lesende wie Zuhörende an andere Orte zu bringen, haben alle drei Autoren wirkungsvoll dargestellt; dass sie darüber hinaus einen wichtigen Teil der Literaturszene des Ruhrgebiets vertreten und ganz zu Recht im Programm von Literatürk zu finden sind, haben sowohl Ulfat, Wolbring und Cölgecen als auch Laarmann bewiesen.

Literatürk-Festival | noch bis zum 15.11. | www.literatuerk.com

Richtungsding. Zeitschrift für junge Gegenwartsliteratur | www.richtungsding.de

 

Barbara Slotta

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