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Ivana Sajko bei der Literatürk-Lesung in Essen.
Foto: Benjamin Trilling

Von der Liebe im Neoliberalismus

19. November 2018

Literatürk-Festival: Ivana Sajko mit „Liebesroman“ im Folkwang-Museum Essen – Literatur 11/18

Immer wieder sind sie auf die Straße gegangen. Gegen Korruption und Privatisierung. Erfolglos. Armut und Perspektivlosigkeit beherrschen noch immer die kroatische Gesellschaft. Betroffen ist davon vor allem eine junge, gut ausgebildete Schicht. Als Kroatiens Linke 2010 und 2011 gegen diese Missstände mobilisierte, folgte auch Ivana Sajko dem Aufruf. Auch der Schriftsteller Clemens Meyer befand sich zu dieser Zeit vor Ort. Er sah die Demonstrationen und spürte die Ohnmacht im Land. Vor allem als er schließlich bei einer Lesung den Sätzen von Ivana Sajko lauschte: „Es ist wunderbar, wie es in diese Liebesgeschichte eingeflochten ist“, sagt Meyer über Sajkos aktuellem Roman, für den sie in diesem Sommer mit dem Internationalen Literaturpreis geehrt wurde.

Aus ihrem „Liebesroman“ las sie am vergangenen Samstag im Folkwang-Museum, Sajko begann mit dem kroatischen Original, bevor Clemens Meyer bei der Literatürk-Lesung die deutsche Übersetzung übernahm.

 Schriftsteller Clemens Meyer las die deutsche Übersetzung, Foto: Benjamin Trilling

Der Leipziger las Sajkos verschachtelte Sätze, die einen prompt im ersten Kapitel hineinschleudern in dieses viel zu enge Apartment und den Streitigkeiten, die sich zwischen ihren beiden namenlosen ProtagonistInnen, zwei junge Eltern eines Kindes, erneut entladen: „Worte, Worte, Worte, und die Worte donnerten durch das Zimmer, durch die ganze Wohnung, oder, um es präziser auszudrücken, durch die enge Zweizimmerwohnung, die sie viel zu teuer gemietet hatten, sodass die meisten dieser Ausbrüche durch die Tatsache erklärt werden konnten, dass sie schon wieder ihre Miete nicht rechtzeitig hatten zahlen können. Niederschmetternd, aber so war es nun mal.“

Nutzt sich eine Liebe unwiederbringlich ab, wenn das Geld ausbleibt? Kann es Glück im Privaten geben, wenn die politische Gestaltung des Landes eine einzige Misere ist? Davon erzählt Sajko im Kleinen, anhand einer einstigen Theaterschauspielerin, die nur noch gelegentlich mit Auftritten in trivialen Kino- und TV-Produktionen Geld nach Hause bringt. Ihr Gatte ist ein arbeitsloser Schriftsteller, der viel trinkt und an einem „Liebesroman“ schreibt – für den ihm nur noch der Plot fehlt.

Während in den eigenen vier Wänden Trostlosigkeit herrscht, weicht draußen das Stadtbild schicken Einkaufszentren und anderen protzigen Neubauten. In einem Kapitel, aus dem Meyer an diesem las, nimmt der Mann an einer Demonstrationen gegen den geplanten Bau eines Parkhauses teil. Und kehrt enttäuscht nach Hause zurück. Ein Gefühl, das in Kroatien weit verbreitet ist, wie Sajko in Essen erklärte: „Egal, was sie tun, es bringt nichts. Die Demokratie steckt in einer tiefen Krise und dieses Gefühl hat mich am stärksten bewegt.“

Sajko hat damit einen politischen Roman vorgelegt, der von der Liebe in Zeiten des Neoliberalismus erzählt, in der Existenzängste an den Hoffnungen und Träumen zweier Verliebter nagen. „Mich interessiert, was das mit den Einzelnen macht, die sich in dieser Situation befinden“, sagte die Kroatin, die dafür keine klassischen ArbeiterInnen porträtierte. Ihr paar ist jung, akademisch ausgebildet und blickt trotzdem hoffnungslos auf ihr Leben: „Das wollte ich damit erreichen, dass ich das Problem des Geldes direkt in die Liebesbeziehung hineintrage.“ Entstanden ist ein Streifzug durch eine Ohnmacht, die in Kroatien die Straßen, aber auch die Beziehungen heimsucht.

Benjamin Trilling

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