Twitter taugt nicht wirklich als Forum für eine Debatte über den Zusammenhang von Einsteins Relativitätstheorie und dem Global Positioning System (kurz: GPS), das viele PKW-Fahrer:innen nutzen, sofern sie am Steuer auf ein Navi zurückgreifen. Zu knapp scheint die maximale Zeichenzahl beim Nachrichtendienst bemessen zu sein, um angemessen über diese physikalische Angelegenheit zu räsonieren.
Doch als Dietmar Dath in einem Magazin einen Artikel veröffentlichte, der unter anderem diese Themen rund um die Schwerkraft aufgreift, entstand ein besserwisserisches Twitter-Echo. „Alles in nur zwei Sätzen“, sagt der Schriftsteller bei seinem Literatürk-Auftritt über dieses Feedback, welches Dath erwähnt, um ein Motiv zu erläutern, das ebenso für seinen aktuellen Roman gilt: „Gentzen. Oder: Betrunken aufräumen“, so der Titel.
Vom Sehen und Verstehen
„Ich habe mit Schrecken erlebt, wie Leute glauben, alles zu verstehen“, erzählt Dath im Essener Filmstudio Glückauf. Damit zielt er auf arrogante Feuilletonisten genauso wie auf die neuen Twitter-Gelehrten. Vielleicht eröffnet sich in dieser Differenz zwischen dem Willen, die Dinge zu verstehen und dem Glauben, alles zu wissen, auch seine über 600 Seiten umfassende Romanwelt. Darin leben Figuren wie David Hume, Jeff Bezos oder Lady Gaga.
Klammer dieses Romans ist jedoch der deutsche Logiker und Mathematiker Gerhard Gentzen, ein Genie seines Fachs und ein Opportunist während der Nazi-Herrschaft. Wie bereits in „Dirac“ (2006) widmet sich Dath einem naturwissenschaftlichen Thema, was gerade in der Belletristik, der oft sinnliche, konkrete Schilderungen abverlangt werden, nicht einfach erscheint. Damit kratzt Dath an den gegenwärtigen Hürden des Abstraktionsvermögens; denn, so heißt es in dem Roman, das „größte Problem beim Erklären von mathematischer Physik sei, dass die Leute sich aufs Vorstellungsvermögen stützen wollen anhand immer nur eines einzigen Sinnes, des Gesichtssinns nämlich, der Augen ... sie wollen es halt anschaulich…“ (weswegen vielleicht auch viele in den letzten Monaten an einem Virus zweifelten, weil sie es nicht zu Gesicht bekamen).
Dath streift diese Geschichte Gentzens, seine Lagerinhaftierung oder seine wissenschaftlichen Arbeiten, welche die spätere Informatik stark beeinflussten. Aber sein Roman ist keine Biografie über einen logisch denkenden Menschen, dafür finden sich zu vielen Nebenhandlungsstränge oder Digressionen in diesem Werk. Genauso labyrinthisch wie seine Prosa ist an diesem Abend auch Daths Auftreten. Das beginnt beim Vorlesen, denn der langjährige FAZ-Redakteur klappt sein Buch gar nicht erst auf, er trägt eine Kurzgeschichte vor, die lose auf dem Roman basiert, jedoch zugleich den Kontext des Festivals mitberücksichtigt. Es ist mehr eine Performance als eine Lesung.
Wissen ist Macht
Seine Ausführungen mäandern und springen, sobald er auf die Fragen von Moderator Stephan Muschick eingeht. Kalkül, wie es der Romanuntertitel signalisiert? „Das Denken ist voll mit Brezeln“, erläutert Dath. Damit spielt er auch auf jene Denkfallen an, die im marxistischen Jargon als Verdinglichung gelten, und sich in der Sprache, in der Ideologie, im alltäglichen Handeln widerspiegeln. Dath nennt ein Beispiel: „Fünf ist, dass wir bis fünf zählen können, nicht dass es fünf Dinge gibt.“ Im Vordergrund stehe eben jenes menschliche Handeln, das bereits Marx stets betonte – selbst wenn dieses nicht aus freien Stücken geschehe. „Er wusste, dass Wissen aus Kämpfen und Kämpfe aus Wissen bestehen“, so Dath über den „rheinischen Ökonomen“, in dessen Werk er eine Facette seiner dialektischen Logik hervorhebt: erst die Praxis, um anschließend mehr wissen zu können. Umso langweiliger erscheint es, auf der Bühne einfach aus dem eigenen Buch zu lesen.
Literatürk Festival | 8. bis 17.11. | div. Orte in Essen & online | www.literatuerk.com
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