Oskar Lafontaine, Mitbegründer der Linken, stattete seinen nordrhein-westfälischen Parteigenossen am Sonntag einen Überraschungsbesuch ab. Als Schlussredner bei der sogenannten Stadtteilkonferenz im Bochumer Jahrhunderthaus geißelte er unter anderem den wachsenden Einfluss von Großkonzernen wie Facebook und Google auf die Meinungsbildung.
Im Internet, insbesondere im Bereich Social Media, finde derzeit eine „Enteignung unseres Privatlebens und unseres Denkens, eine Enteignung der Demokratie“ statt, erklärte Lafontaine, der kurzfristig für seine erkrankte Ehefrau Sahra Wagenknecht, die Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag, eingesprungen war. Social Media böte auch Chancen, dürfe aber nicht nur rein kommerziell orientierten Anbietern überlassen werden. Lafontaine forderte die Schaffung einer öffentlich-rechtlichen Plattform, um den Menschen dort einen neutralen Zugang zu Informationen zu ermöglichen. Insgesamt, so der 74-Jährige weiter, gehe es darum, ein neues Gemeinschaftsgefühl in der Gesellschaft zu schaffen. Die neoliberale Politik der vergangenen Jahrzehnte habe zu einer Vereinzelung geführt. Lafontaine erinnerte an den Theologen Paul Tillich, der den Sozialismus als „Widerstandsbewegung gegen die Zerstörung der Liebe in der Gesellschaft“ interpretiert hatte.
„Die Mehrheit der Gesellschaft wird in den Parlamenten nicht mehr abgebildet, weil dort die Machtstrukturen der oberen Zehntausend abgebildet werden“, gab Lafontaine, der heute als Fraktionsvorsitzender der Linken im Saarländischen Landtag fungiert, zu bedenken. Seine Partei müsse sich Gedanken darüber machen, wie sie ihre Position stärken könne, um ihre Ziele durchzusetzen. „Wir müssen uns auch selbst die Frage stellen, was wir falsch machen“, führte er aus. Niemandem sei damit geholfen, enttäuschte Wählerinnen und Wähler pauschal abzuqualifizieren. „Die Leute wählen aus Wut und Frust rechts, weil sie keine Ansprechpartner mehr haben.“
Die Parteigenossen im voll besetzten Saal des Jahrhunderthauses feierten Lafontaine mit Standing Ovations. Zuvor war die Ausgangsfrage der Stadtteil-Konferenz, „Was tun gegen soziale Ungleichheit und Rechtspopulismus?“ unter anderem in einer Gesprächsrunde erörtert worden. Daran nahm auch die Generalsekretärin der niederländischen Linken-Schwesterpartei SP, Lieke Smits, teil. „Wir müssen den Zusammenhalt der Gesellschaft stärken, um unsere Ziele zu erreichen“, lautete eine ihrer Kernaussagen. Dabei sei die Stadtteilarbeit ein wichtiges Element.
Sevim Dağdelen, Bundestagsabgeordnete der Linken aus Bochum, war zuvor konkret auf die Situation im Ruhrgebiet und in Nordrhein-Westfalen eingegangen. „Die Folgen der neoliberalen Politik tragen die Menschen, die in den schwächeren Stadtteilen wohnen“, führte sie aus und verwies unter anderem auf Duisburg-Bruckhausen, wo sie selbst aufgewachsen sei. Die politisch Verantwortlichen seien gefordert, hier Abhilfe zu schaffen – nicht zuletzt auch, um zu verhindern, dass sich die von Zukunftsangst getriebenen Menschen rechtspopulistischen Parteien zuwenden. „Wer den Menschen diese Ängste nehmen will, muss auch die Reichen und Superreichen zur Kasse bitten.“
Zudem sei es wichtig, den direkten Kontakt zu den Menschen zu suchen und bei ihnen wieder das Interesse an Politik zu wecken. „Wir bekommen es häufig mit, dass viele gar nicht wissen, dass eine Wahl unmittelbar bevorsteht“, berichtete Dağdelen. „Politische Stadtteilarbeit vor Ort wird ein wichtiger Bestandteil unserer künftigen Arbeit sein“, kündigte sie an. Um dabei zu überzeugen, müsse man „als Allererstes das Oberlehrerhafte zu Hause lassen“. Hierfür fand Amid Rabieh, Kreissprecher der Linken in Bochum, noch deutlichere Worte. „Wir müssen von unserem hohen Ross herunterkommen, um den von Armut bedrohten Menschen auf Augenhöhe zu begegnen“, sagte er. Dazu sei es notwendig, eine Sprache zu sprechen, „die jeder auch ohne Doktortitel problemlos verstehen kann.“
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